Auf den Inseln des letzten Lichts
hatte …« Tanvir sah Tobey an. »Megan hatte diese Phasen.« Er drehte die Hände, deren ockerfarbene Innenflächen im Licht der Abenddämmerung leuchteten. »Stimmungsschwankungen.«
»Ich verstehe nicht.«
»Ihre Schwester war ein starker, idealistischer Mensch, außergewöhnlich intelligent. Sie hat sich für alles interessiert, ihr Kopf gehörte dem Begreifen vom Lauf der Welt, ihr Herz dem Käfer, der auf ihrem Notizblock landete. Aber ihre Zeit verlief in Wellen. In einem Augenblick strahlte sie vor Lebensfreude, im nächsten verkroch sie sich in ihrem ganz eigenen Unglück.«
»Was wollen Sie damit sagen? Dass sie depressiv war?«
Tanvir wischte unsichtbaren Schmutz von der Hose. Eine Art Seufzer entwich seinen Lippen. »Ich bin Mediziner. Ich habe ein Semester Philosophie studiert, von Psychologie verstehe ich nicht gerade viel. Ich habe nur beobachtet, dass Ihre Schwester in Zyklen lebte, auf Höhen und in Abgründen.«
Tobey erhob sich. Eine Mücke summte an seinem Ohr.
»Soll ich Ihnen neue Verbände anlegen?«
Tobey warf einen Blick auf seine Handgelenke. Die Stelle, die geblutet hatte, schien gut zu verheilen. »Vielleicht später«, sagte er. »Erst will ich duschen.«
»Um sieben gibt es Abendessen.«
Tobey nickte. Als er bei der Treppe war, wandte er sich um. »Wer hat sie gefunden?«
Tanvir stemmte sich aus dem Stuhl. Er hatte ein paar Kilo Übergewicht, ein Schweißfilm bedeckte sein Gesicht. Er atmete laut aus, als habe ihn das Aufstehen angestrengt. »Montgomery«, sagte er.
»Der Affe?«
»Benutzen Sie das Wort bitte nie in seiner Gegenwart.«
In Tobeys Kopf wirbelten Fragen, aber er war plötzlich so erschöpft, dass er sich umdrehte, das Treppengeländer ergriff und die Stufen hinabstieg, eine nach der anderen, wie ein Kind.
Rosalinda wartete, bis alle am Tisch saßen, faltete die Hände, schloss die Augen und trug im Brustton unerschütterlicher Überzeugung und bühnenreifer Hemmungslosigkeit ein Gebet vor, als bewerbe sie sich um den Posten einer Fernsehpredigerin. Ihre vom Feuer des Glaubens erhitzten Worte vermischten sich mit den Essensdämpfen und füllten den Raum, stiegen hoch, wurden von den Deckenventilatoren erfasst und durch das Fliegengitter ins Freie geweht, wo sie das Ohr einer Kröte oder Eidechse streiften, vom Lärm der Zikaden übertönt wurden und sich in der Schwärze der Nacht verloren. Wie zur Abkühlung leierte Tanvir emotionslos ein paar Sätze in der für Tobey fremden Sprache herunter, dann bedienten sich alle aus den vollen Töpfen und Schüsseln. Rosalinda hatte Fisch gebraten und dazu Süßkartoffeln gekocht und ein Blattgemüse, das Tobey nicht kannte. Montgomery aß keinen Fisch, dafür Unmengen von Brot, das die Köchin am Nachmittag gebacken hatte. Er bestrich jede Scheibe dick mit Butter und streute Kokosflocken darauf. Bekleidet mit einer schwarzen, knielangen Hose, einem grauen Kurzarmhemd und einer schwarzen Schirmmütze, die er auf der Türschwelle abgenommen hatte, als betrete er eine Kirche, sah er aus wie ein Briefträger. Chester war wieder völlig versunken in die Nahrungsaufnahme. Er aß mit konzentrierter Hast und nicht so manierlich wie Montgomery, und alle paar Minuten entfuhr ihm ein Seufzer der Zufriedenheit. Auch heute redete niemand während des Essens. Tanvir lobte Rosalindas Kochkünste, und Tobey, Miguel und Jay Jay murmelten eilig eine Bestätigung. Rosalinda funkelte Tobey ein einziges Mal abschätzig an, dann würdigte sie ihn während des ganzen Abends keines weiteren Blickes.
Nach dem Essen verband Tanvir Tobeys Wunden, obwohl Tobey beteuert hatte, das sei nicht mehr nötig. Die aufgeschürften Stellen an den Hand- und Fußgelenken spürte er kaum noch, eine dünne, rosafarbene Haut begann sich zu bilden. Nur die Verletzung am Hinterkopf blutete noch, wenn Tobey duschte und der frische Schorf sich löste. Er fühlte sich unbehaglich in der Krankenstation, in der es nach feuchtem Fensterkitt roch und nach dem Gin in Tanvirs Glas. Eine Scherbe, die Jay Jay übersehen hatte, lag am Boden. Tobey hob den Blick. Ein großer graubrauner Falter umschwirrte die Deckenlampe, Staub von seinen Flügeln rieselte, im Licht glitzernd, zu Boden.
»Rosalinda fragte mich heute, ob Sie ein gottloser Mensch seien.«
»Ein was?«
»Sie dürfen ihr das nicht übelnehmen. Sie ist, wie Sie ja bereits bemerkt haben, eine sehr religiöse Frau.«
Tobey stemmte sich mit beiden Händen von der Behandlungsliege und ging zur Tür, an
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