Auf den Inseln des letzten Lichts
einem der Grabmale stehen, kauerte sich hin und berührte den Stein. Dann erhob er sich, ging mit gesenktem Kopf die zehn, zwölf Schritte zurück, zog die Sandalen wieder an, nahm den Schirm und ging an Tobey vorbei.
»Lassen Sie sich Zeit«, sagte er noch und war weg.
Tobey setzte sich auf die Holzbank, die von zwei kleinen Bäumen mit hellbrauner, glänzender Borke flankiert wurde, und zog die Schuhe aus. Der Himmel war leer, ein aufgeräumter Raum mit blauen Tapeten. Dass da oben die Toten wohnten, hatte Father MacMahon gesagt, und dassSeamus O Flynn nicht alleine sei. Gott sei bei ihm und sein Vater Cormac und seine Mutter Maeve und seine Großeltern Joseph und Claire. Nach der Beerdigung hatte Tobey sich betrunken, alleine, im Zimmer eines B & B außerhalb der Stadt. Er hatte auf dem zu weichen und zu großen Bett gelegen, an die mit falschem Stuck verzierte Decke gestarrt und sich vorgestellt, dass sein Vater im Himmel ein Zimmer neben Jimi Hendrix bewohnte, der Tag und Nacht Gitarre spielte und sich die Seele aus dem Leib schrie. Dann war ihm eingefallen, dass Hendrix sich mit Drogen umgebracht hatte und laut katholischem Gesetz in der Hölle gelandet war.
Tobey stand vor dem Grabstein, legte beide Hände darauf. Der Stein hatte die Wärme der Sonne gespeichert, die verschwunden war, von einer Sekunde auf die andere, wie Tanvir. Megan summte, eine helle Stimme im Chor der Insekten, und Tobey schloss die Augen.
Nachricht von Megan
Uns gibt es nicht mehr, Tobey. Sokrates hat geträumt, wie sie uns verhaften. Wir sind in alle Winde verstreut. Gras soll wachsen. Meine Haare sollen wachsen. Es ist leicht, mit leeren Händen zu reisen. Ich bin auf dem Land, weit weg von allem, und bald werde ich ganz verschwunden sein. Ich werde mit geschlossenen Augen durch einen Albtraum fliegen und auf einer Insel landen. Wie ein Engel. Ich werde einen anderen Namen tragen, den Namen meines Mannes. Benson. Cummings. Dempsey. (Wenn das Gras ein Jahr hoch ist, werde ich ihn dir verraten.) Der Pfarrer war beinahe blind, der Trauzeuge ein Philosophieprofessor aus der Ukraine, dessen Imbisswagen in der Nacht zuvor gestohlen worden war. Der Hochzeitsmarsch kam aus einem Kassettenrecorder, und der Hemdsärmel des Pfarrers fing an einer Kerze Feuer. Ich frage mich heute noch, ob das traurig war oder komisch. (Es gibt keine Fotos.) Die Landschaft hier unterscheidet sich kaum von der, in der ich vor drei Jahren war. Das Pferd auf der Wiese ist schwarz statt weiß, kein Sam im Leichenhemd, und der nächste Ort sechzehn statt zwölf Kilometer entfernt. Manchmal vermisse ich die Stadt, die vielen Menschen, in deren Mitte die Einsamkeit ein anderes Gewicht hat. Hier wiegt sie nichts, ist das Kleid, das ich trage. London macht dich verrückt und wütend, hier wirst du sanft und schläfrig. Ich kann das Gras wachsen hören, das meinen Namen schon fast bedeckt. Ich sitze in einem Tal und mache die Zeit und das Licht. Manchmal vermisse ich meine Bücher. Ich stelle mir vor, wie sie in den Regalen von irgendwelchen Leuten stehen, in kleinen dunklen Wohnungen. Ich möchte sie holen, jedes einzelne stehlen und hierherbringen. Ich würde eine Lücke zurücklassen dort, wo ich das Buch genommen habe. Die Leute würden die leere Stelle betrachten undsich fragen, welches Buch nicht mehr da ist. Ich sitze an einem Tisch am Fenster eines Hauses voller Bücher, die ich nicht lesen werde. Die Entscheidung, ein Buch auszuwählen, überfordert mich. So viele Gedanken, Ideen, Erkenntnisse, so viele Wörter, Sätze, Kapitel. Ich bin zwei Jahre alt und frage mich, wovon der Bär im Winter träumt. Ich weiß alles, was die in der Schule wissen wollen. Ich werde zu schnell erwachsen. Das Bild meiner Welt ist der Blick aus diesem Fenster. Es gibt keinen Fernseher hier (altersbedingter Ausfall, nichts Ideologisches), nur ein Radiogerät im Wohnzimmer. Weil mich vor einiger Zeit eine merkwürdige Müdigkeit erfasst hat, höre ich keine Musik mehr. An manchen Tagen ist mein Kopf so schwer, dass ich ihn hinlegen muss wie ein übernächtigtes Kind. Dann glüht er aus, ein veraltetes Gerät, für das es keine Ersatzteile mehr gibt. An anderen Tagen ist er leicht, dann verlassen ihn die Erinnerungen. Weißt du noch, als ich am Kühlhaus der Metzgerei von Barry Spillanes Eltern die Sicherungen rausgeschraubt habe und das Fleisch beinahe verdorben wäre? So etwas Ähnliches haben wir vor ein paar Wochen gemacht, auf der größten Hühnerfarm von Yorkshire. Wir
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