Auf den Inseln des letzten Lichts
durch die Ritzen zwischen den Brettern ins Dunkel fielen.
»Gut gemacht«, sagte Tanvir.
Jay Jay trank sein Glas leer und stellte es auf den Tisch. »Ja.« Er hängte sich die Kiste an die Schulter und ging zur Treppe. »Aber Vogel? Nein.« Er stieg die Stufen hinab und verschwand um die Ecke.
Tanvir klaubte ein Ingwerstück aus seinem Glas und warf es über das Geländer. Eine Weile sagte keiner der beiden etwas. Die Vögel schossen aus den Bäumen und stoben davon, stumm, als hätte etwas Entsetzliches sie aufgescheucht. Hoch oben glitt ein Flugzeug vorbei, und Tobey sah ihm nach, weil es seit Tagen das erste war.
»Rosalinda pflegt die Gräber«, sagte Tanvir schließlich. Er hatte sein Glas ausgetrunken und die Füße auf den Stuhl vor sich gelegt. »Sie ist sehr gläubig. Sehr katholisch.«
»Woran ist Megan gestorben?«
Tanvir sah Tobey an, dann wandte er den Blick ab und schien einen Punkt irgendwo über den Baumspitzen zu fixieren. »Sie ist ertrunken«, sagte er dann leise.
Tobey starrte Tanvir an. »Ertrunken? Das ist unmöglich! Sie war eine gute Schwimmerin!« Als Kind ist sie in Teichen geschwommen, hätte Tobey noch sagen können, in Seen und im Meer. Megan wollte ein Frosch sein, ein Zackenbarsch, eine Robbe. Aber er sagte nichts mehr.
»Es gibt Quallen in diesen Gewässern …« Tanvir machte eine vage Geste mit der Hand und atmete einmal tief ein und aus, bevor er fortfuhr. »Ihr Gift vermag einen Menschen innerhalb weniger Minuten umzubringen.«
Tobey setzte sich auf den Boden. Er schwitzte, fuhr sich mit dem Hemdsärmel über das Gesicht.
»Wir haben Ihre Schwester nach katholischem Brauch bestattet. Ich hoffe, das wäre in Megans Sinn gewesen.«
Tobey hob den Kopf, nickte. Er hielt es nicht für nötig, dem Inder zu erzählen, dass Megan am Tag ihrer Volljährigkeit aus der Kirche ausgetretenwar. Er hatte es damals von Barry Spillane erfahren, der gehört hatte, wie seine Mutter eine Kundin mit der Neuigkeit schockierte.
Tanvir deutete auf Tobeys leeres Glas, das auf dem Geländer stand, aber Tobey schüttelte den Kopf.
»Ich habe Sie angelogen«, sagte Tanvir unvermittelt. Er nahm die Füße vom Stuhl und steckte sie in die Sandalen. »Ich habe nicht nur einen Brief gelesen.«
Tobey dachte über dieses Geständnis nach. »Ich hätte auch nicht nach einem aufgehört«, sagte er dann.
Ein Lächeln glitt über Tanvirs Gesicht. Er lehnte sich zurück, betrachtete seine Hände, die gefaltet auf seinem Bauch lagen. Tobey war müde. Er hatte sich zu lange in der Sonne aufgehalten, die Haut im Gesicht spannte ein wenig. Salz bedeckte seine Arme, ein feines Puder. Wieder schwiegen die beiden, jeder hing seinen Gedanken nach. Ab und zu nippte Tanvir an seinem Glas oder tupfte sich mit seinem Taschentuch über die Stirn. Man konnte zusehen, wie das Licht matter wurde, mit jeder Minute verlor der Himmel an Helligkeit. Nur die Hitze blieb unverändert und der Zustand fast gänzlicher Windstille.
Tobey legte den Kopf an einen Geländerpfosten. Bei der Vorstellung, dass Megan keine tausend Schritte entfernt in einem Grab lag, für immer tot und stumm, dass er nie mehr mit ihr würde sprechen können, nie mehr ihre Stimme hören würde, dass ihr Fleisch sich auflöste, ihre Beine und Brüste und Lippen verschwanden und ihre Knochen zum Vorschein kamen, ihr Schädel mit den Löchern, wo einst ihre Augen waren, wurde ihm elend, und er schluckte die Trauer und Wut herunter, schloss die Augen und vergrub den Kopf in den Armen.
»Sie hat oft in ihrem Zimmer gesessen und geschrieben.«
Tobey öffnete die Augen. Sekundenlang tanzten schwarze Punkte vor ihm in der Luft. Er streckte sich, nahm das Glas vom Geländer und hielt es Tanvir hin, der es eilig füllte.
»Was hat sie geschrieben?«
»Alles Mögliche. Beobachtungen. Gedichte. Briefe.«
»Hat sie die Briefe abgeschickt?«
»Das weiß ich nicht.«
»Gibt es hier denn einen Postdienst?«
»Hin und wieder kommt ein Boot, bringt Dinge und nimmt Dinge mit, auch Post.«
Tobey trank das Glas in einem Zug leer, dann kaute er auf einem Stück Ingwer, dessen Schärfe in seine Zunge drang und ein angenehmes Brennen verursachte. »Haben Sie Sachen von ihr? Was sie geschrieben hat oder etwas anderes.«
»Ich habe ein paar ihrer Naturbeobachtungen. Zeichnungen. Notizen.«
»Und der Rest?«
Tanvir sah in die Richtung, in der das Meer lag. »Es ist nichts mehr da. Sie muss alles vernichtet haben.«
»Was? Warum sollte sie das getan haben?«
»Sie
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