Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Auf den Inseln des letzten Lichts

Auf den Inseln des letzten Lichts

Titel: Auf den Inseln des letzten Lichts Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: R Lappert
Vom Netzwerk:
deren Gitterbespannung zahllose Insekten krabbelten und flatterten. Das letzte Mal hatte er in einer Kirche gesessen, als sein Vater beerdigt wurde.
    »Sie könnten ja statt eines Gebets auch ein Gedicht vortragen. Oder etwas in Ihrer irischen Sprache.«
    »Ich spreche kein Gälisch.«
    »Kann nicht jeder Ire Gälisch?«
    »Nein.«
    Tanvir schwieg, als müsste er aufgrund dieser Erkenntnis sein gesamtes Weltbild neu zusammenfügen. Er nippte an seinem Gin und sah auf die Veranda hinaus. Er trug seine üblichen Sandalen, eine weite schwarze Hose und ein weißes, am Kragen und an den Manschetten besticktes Hemd. Um seinen Hals hing eine Kette aus kleinen Holzperlen, an der ein Amulett befestigt war, eine mit Schriftzeichen und Symbolen verzierte Holzscheibe von etwa fünf Zentimetern Durchmesser. Plötzlich ging ein Ruck durch ihn hindurch. Er machte zwei, drei ausholende Schritte, stieß die Fliegengittertür auf und trat ins Freie. »Wollen wir uns setzen?«, rief er und machte eine Geste mit dem Arm zu dem Tisch und den Stühlen, die im Schein der Petroleumlampe ein Bild abgaben, das man, je nach Stimmung, romantisch oder schäbig nennen konnte.
    Tobey nahm auf einem der Stühle Platz.
    »Sie haben noch zu trinken?«
    Tobey hob die halbvolle Büchse mit lauwarmer Cola, die er aus der Schlafbaracke mitgenommen hatte. »Ja.«
    Tanvir setzte sich ebenfalls hin. Mit dem Einbruch der Nacht war es deutlich kühler geworden. Eine Brise strich über die Insel, stark genug, um den kleinen Wald vor der Veranda zum Rauschen zu bringen.
    Tanvir hob sein Glas. »Worauf trinken wir?«
    »Keine Ahnung.«
    »Auf den Zufall?«
    »Welchen Zufall?«
    »Zum Beispiel den, der Sie auf diese einsame Insel gebracht hat.«
    »Das war kein Zufall.«
    Tanvir senkte den Blick und nickte. Schließlich sah er Tobey ernst an. »Dann vielleicht auf das Andenken Ihrer Schwester?«
    Tobey hob die Büchse. »Auf Megan«, sagte er leise, dann tranken beide einen Schluck.
    Tanvir atmete tief aus, und es war unmöglich zu sagen, ob es Zufriedenheit ausdrückte oder Schwermut. Er wirkte müde, die Haut unter seinen Augen war dunkel und zerknittert.
    Tobey stellte die Büchse auf den Tisch, in seinen Händen wurde das Getränk immer wärmer und ungenießbarer. »Was tun Sie hier?« Er verscheuchte ein Insekt. »Wo sind die anderen?«
    »Die anderen?«
    »Wissenschaftler. Ihre Kollegen, die hier mit Ihnen geforscht haben. Wo sind die?«
    Tanvir drehte sein Glas in den Händen, starrte in die zwei Fingerbreit Gin, seufzte. »Alle weg, fürchte ich.«
    »Warum?«
    Tanvir lachte auf, ein müdes Lachen. »Sehen Sie sich um. Würden Sie hier arbeiten wollen?«
    »Es war doch nicht immer so.«
    »Nein.« Tanvir trank das Glas leer und füllte es erneut zur Hälfte. »Vor langer Zeit war viel mehr los auf den Inseln.«
    »Es gibt mehrere Inseln?«
    »Zwei. Diese hier und die, auf der wir Sie gefunden haben.«
    »Ich bin auf einer anderen Insel?«
    »Habe ich vergessen, Ihnen das zu sagen?«
    »Ja.« Jetzt wurde Tobey klar, warum er vor ein paar Tagen von einem Hügel herabgestiegen war, den er auf der Insel, auf der ihn die Männer abgesetzt hatten, nie gesehen hatte.
    »Wie ist denn der … Wie ist Montgomery auf die andere Insel gekommen?«
    »Er war mit Jay Jay da. Sie fahren ab und zu mit dem Boot rüber und holen Kokosnüsse.«
    »Ist das weit weg?«
    »Zehn, zwanzig Minuten, je nach Boot. Bei rauher See mehr.«
    »Warum zwei Inseln?«
    »Vor vierzehn Jahren, als ich hier ankam, herrschte auf beiden Inseln reger Betrieb. Wir waren acht Wissenschaftler und fünf Assistenten. Dazu kamen die Angestellten, Einheimische, die putzten, kochten, Gemüse anbauten. Auf der anderen Insel gab es Gewächshäuser, eine Solarkraft- und eine Meerwasserentsalzungsanlage, beide nicht sehr groß, aber durchaus effizient. Wir hatten zwei Boote, ein kleines mit Außenbordmotor und einen ehemaligen Fischkutter.« Tanvir, ein wehmütiges Lächeln im Gesicht, kratzte sich am Kopf.
    »Sie sind seit vierzehn Jahren auf dieser Insel?«
    Der ungläubige Ton in Tobeys Stimme brachte Tanvir zum Lachen. Dann stieß er einen langen Seufzer aus. »Oh ja«, sagte er. Und, nach einer Pause, noch einmal, leiser: »Oh ja.« Er nahm einen großen Schluck Gin und lehnte sich zurück. »Nicht dass ich jung gewesen wäre vor vierzehn Jahren. Aber ich hatte Ambitionen. Träume. Hätte mir damals jemand gesagt, ich würde heute noch hier sitzen, ich hätte ihn ausgelacht, vermutlich sogar

Weitere Kostenlose Bücher