Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Auf den Inseln des letzten Lichts

Auf den Inseln des letzten Lichts

Titel: Auf den Inseln des letzten Lichts Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: R Lappert
Vom Netzwerk:
ein zurückhaltender, höflicher alter Herr, der seinem Gast Zeit lässt, sich umzusehen.
    »Nett«, sagte Tobey. Er hob den Daumen der rechten Hand und wiederholte das Wort.
    Montgomery nickte. Dann ging er zum Bücherregal, in dem Kinderbücher, Bildbände und Aktenordner standen, nahm einen Ordner von einem Brett und reichte ihn Tobey. Der Ordner enthielt etwa fünfzig Blätter. Auf jedem Blatt standen vier Wörter. Zu jedem Wort gehörten ein Foto des Begriffs und Illustrationen mit den entsprechenden Handzeichen. Arm , las Tobey, Auge , Ball , Bauch . Die Illustrationen waren sehr einfach gehalten, schwarzweiß und grafisch.
    »Bauch«, sagte Tobey. Hinter dem Begriff zeigten Fotos einen Menschen und einen Affen, deren Bäuche von einem roten Rechteck umrandet wurden.
    Montgomery ging zum Schreibtisch, nahm ein spielkartengroßes Stück Pappe aus einem Registerkasten und reichte es Tobey. Auf dereinen Seite der Pappe waren die beiden Fotos abgebildet, auf der anderen befand sich die Illustration, eine Strichfigur, die weder Mensch noch Affe war, mit Kopf, Rumpf, zwei Armen und zwei Beinen. Eine nur aus Linien bestehende Hand lag auf dem Bauch der Figur. Montgomery legte sich die Hand auf den Bauch.
    Tobey konnte nicht verhindern, dass sich ein erstauntes Grinsen auf seinem Gesicht breitmachte. Er wollte schon applaudieren, als ihm klar wurde, wie unpassend das wäre. Er blätterte weiter und las Käfer und Kokosnuss , Lampe und Loch , Wasser und Wurm , Zaun und Zitrone . Weiter hinten im Ordner kamen die schwierigeren Begriffe: ablehnen , allein , denken , helfen , krank , Luft , müde , Musik , Ruhe , Strafe , tot , vergessen , Verletzung , wütend , zeigen . Auf den letzten beiden Seiten standen Namen: Chester . Gwendolyn . Jay Jay . Maxwell . Miguel . Minnie . Nelson . Rosalinda . Tanvir . Wesley . Ganz am Schluss, ebenfalls handgeschrieben, aber in einer anderen, ihm vertrauten Schrift, las Tobey: Megan . Hinter jedem der Namen klebte ein passbildgroßes Foto. Maxwell und Minnie waren Schimpansen, Gwendolyn und Wesley Bonobos und Nelson ein Orang-Utan.
    »Megan«, murmelte Tobey. Tränen traten ihm in die Augen. Megans Haare waren kurz und, von der Sonne gebleicht, viel heller als früher. Sie sah in die Kamera, dem Betrachter direkt in die Augen. Ein Lächeln lag auf ihrem Gesicht wie fahles, dämmriges Abendlicht, das im nächsten Augenblick verschwinden würde.
    Montgomery saß am Schreibtisch und nahm mehrere Kärtchen aus dem Karteikasten. Dann winkte er Tobey zu sich. Er hatte vier Kärtchen hingelegt.
    Megan. Tot. Ich. Traurig.
    Montgomery saß auf dem Stuhl und sah zu Boden. Mit seinem krummen Rücken, dem zerknitterten Hemd und dem Bleistiftstummel in der Hand wirkte er wie ein müder Beamter in der gottverlassenen Provinz eines heißen, bedeutungslosen Landes. Tobey wollte ihm eine Hand auf die Schulter legen, tat es dann aber doch nicht, klappte den Ordner zu und stellte ihn zurück ins Regal.
     
    Der Deckenventilator drehte sich, Wellen kühler Luft strichen über Tobeys nackten Oberkörper. Er lag auf dem Bett und blätterte den Ordner durch, den Montgomery ihm gegeben hatte. Auf der ersten Seite klebte eine Farbfotografie, die den Bonobo zeigte. Er trug ein weißes Hemd und eine blaue Krawatte mit weißen Streifen, und es fiel Tobey schwer zu sagen, ob er einfältig, selbstbewusst oder gänzlich ausdruckslos in die Kamera blickte. Unter dem Bild stand: ICH und, in Klammern: MONTGOMERY.
    Nach einer Weile legte Tobey den Ordner unter das Kopfkissen und zog ein Hemd und die Schuhe an. Trotz des Vorfalls mit Montgomery schnallte er sich das Messer an die Wade. Er verließ das Zimmer und die Schlafbaracke und ging zum Strand. Der Himmel war bedeckt, ein leichter Wind trieb die Wolken in eine Richtung, von der Tobey annahm, dass es Osten war. Als er das Meer erreichte, setzte er sich auf einen Fels und sah zu, wie es dunkel wurde, kaum noch erstaunt über die Geschwindigkeit, mit der die Sonne hinter dem Horizont verschwand.
    Dann sah er das Licht. Es war weiß und weit weg und erlosch plötzlich. Tobey sprang vom Fels, obwohl er sicher war, dass man ihn in seiner dunklen Kleidung nicht sehen konnte. Im Schutz des Felsens stand er da und lauschte dem leisen Brummen des Motors, das langsam näher kam. Als das Geräusch lauter wurde, rannte er den Weg zurück und nahm den Pfad, der parallel zum Strand Richtung Villa führte. Wo sich zwei Pfade kreuzten, rannte er die Böschung hinauf, hinter der das

Weitere Kostenlose Bücher