Auf den Inseln des letzten Lichts
nächsten fünf Minuten löste sich die Gruppe auf. Schlafwandlerisch und gefasst, wie sie das tat, erinnerte sie Tobey an eine Picknickgesellschaft, die, vom Unterhaltungswert ihres Ausflugs enttäuscht, das Feld räumt. Tanvir ging voran, den Schirm wieder geöffnet und die Schritte unentschlossen. Rosalinda und Jay Jay nahmen Chester in die Mitte und warteten auf Miguel, der Nancy ins Haus brachte und dann über die Wiese zu ihnen rannte, als sei ein Geist hinter ihm her.
Tobey saß auf der Bank und sah Montgomery zu, der den Friedhofsrasen wässerte. Der Himmel hatte sich zugezogen und verdunkelt, aber Tobey hätte keinen Cent darauf gewettet, dass es in den nächsten Stunden regnen würde. Obwohl es beinahe windstill war, herrschte im Schatten der Bäume eine angenehme Kühle. Über dem Becken, aus dem Montgomery das Wasser holte, schwebten Libellen.
Tobey war unausgeschlafen, Traumfetzen vermischten sich mit Bildern vom Morgen. In seinem Zimmer hatte er Megans Zeichnungen und den Brief noch einmal lange betrachtet und dann zu den anderen Sachen unter die Deckplatte der Kommode gelegt. Über die Gründe für das absurde Treiben vor der Villa wollte er lieber nicht spekulieren, aber es hatte ihn in seiner Vorsicht gegenüber Tanvir bestätigt. Er fragte sich, ob das Boot kommen und Tanvir ihn tatsächlich gehen lassen würde. Eine andere Frage beschäftigte ihn noch mehr, nämlich die, ob er überhaupt gehen wollte; er wusste ja nicht einmal, wohin. Dachte er an Dublin, wurde ihm elend zumute. In der Stadt gab es nichts mehr, wofür es sich gelohnt hätte, zurückzukehren. Jason Dwyer war tot, die Band Geschichte. Cait würde irgendwann sterben, einsam oder in Gesellschaft des Kerls, mit dem sie angeblich glücklich war. Die Aussicht, keine Mutter mehr zu haben, ließ Tobey beinahe kalt. Er hatte vor ein paar Monaten eine fremde Frau in einer Wohnung in Glasnevin besucht und nicht gewusst, was er sagen oder fühlen sollte. Die Farm wollte er nie mehr sehen. Sogar Megan war von dort fortgegangen, von ihrem Zuhause, ihren Tieren, zwei Tage nach dem Tod ihres Vaters, als habe sie diesen Augenblick herbeigesehnt.
Er sah zu den Gräbern hinüber. Das Holzkreuz am Ende des Weges erinnerte ihn an Megans Tierfriedhof. Er stellte sich die Skelette vor, all die Knöchelchen, die in der dunklen Erde ein Muster bildeten, ein geheimes Alphabet. Bevor sie für immer verschwand, hatte Megan fast ihren gesamten Besitz verbrannt. Nachdem Seamus gestorben war, hatte sie ihre Hefte und Bücher und Spielsachen aus Kindertagen und die meisten Kleidungsstücke zur Feuerstelle neben dem Apfelbaum getragen und angezündet. Niemand hatte gesehen, wie sie den Hof, die Gegend, das Land verließ. In Tobeys Vorstellung war sie abseits von Straßen über Hügel und durch Wiesen zum Meer gegangen und nach England geschwommen, wie der Delfin, den sie bei einem Ausflug mit Onkel Aidan in der Dingle Bay gesehen hatten. Wenn sie an heißen Sommertagen stundenlang im Teich geplanscht hatte, behauptete Seamus immer, ihr würden eines Tages Schwimmhäute zwischen Fingern und Zehen wachsen, und sie hatte diesen Tag kaum erwarten können.
Und jetzt sollte sie ertrunken sein.
Montgomery stellte die Gießkannen zurück in den Holzschuppen, indem leere Blumentöpfe und Werkzeug standen. Mit einem Rechen und einem Eimer machte er sich daran, Laub zu kehren.
Tobey erhob sich und ging zum Schuppen. Er wollte nicht über das nachdenken, was er vorhatte. Er nahm die Schaufel, ging zu Megans Grab, räumte die Steine beiseite und begann, die von einer dünnen Grasschicht bedeckte Erde wegzuschaufeln, in fiebriger Hast und mit einem stummen Tosen im Schädel, das jeden Gedanken auslöschte. Jemand versuchte ihm die Schaufel zu entreißen, ein kleiner, erstaunlich kräftiger Mann in einer grauen Uniform, ein seltsamer Friedhofswärter, der nie gehörte Laute ausstieß. Tobey schlug ihm mit der Hand auf den Kopf und brüllte ihn an, riss die Schaufel an sich und trieb das Blatt mit der Schuhsohle in den weichen Boden. Der Angreifer sprang ihm auf den Rücken und umklammerte seinen rechten Arm. Er schüttelte ihn ab und versetzte ihm einen Tritt mit dem Fuß. Die Luft war erfüllt von Hitze und Tobeys Stimme und dem Krächzen von Vögeln, dem Flattern von Flügeln. Als sie auf den Rücken fiel, gab die kleine Gestalt einen langgezogenen dumpfen Ton von sich, einen fassungslosen, schrecklichen Seufzer.
Dann war es still.
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