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Auf den Inseln des letzten Lichts

Auf den Inseln des letzten Lichts

Titel: Auf den Inseln des letzten Lichts Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: R Lappert
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anzusehen, und hob auch jetzt nur kurz den Kopf.
    Die Köchin nickte. »Sie haben Tanvir gesehen heute?«, fragte sie dann.
    »Wie?« Tobey hatte die Bahn einer Schweißperle verfolgt, die an Rosalindas Hals hinabrann.
    »Mister Tanvir. Sie haben ihn heute gesehen?«
    »Nein. Heute noch nicht.«
    »Er getrunken, sicher.«
    Tobey stocherte im Rest des Haferbreis in seiner Schüssel. »Vielleicht.«
    »Ist von Teufel, Alkohol«, sagte Rosalinda und bekreuzigte sich mit einer fliegenden Bewegung der rechten Hand. »Männer kommen von Teufel.« Wieder bekreuzigte sie sich.
    Tobey überlegte, was sie damit meinen konnte. »Die Männer im Boot?«, fragte er dann.
    Rosalinda nickte und sah Tobey aus schmalen Augenschlitzen an. »Schlechte Männer. Muslim.« Das letzte Wort presste sie durch die Zähne, die Lippen verächtlich verzogen. Sie stand auf, nahm ihren Teller und ihre Tasse und stellte beides geräuschvoll ins Spülbecken.
    Tobey wollte noch etwas fragen, aber Rosalinda hantierte so laut mit dem Geschirr, dass er es aufgab. »Bis später«, murmelte er und verließ die Küche.
     
    In seinem Zimmer holte Tobey Megans Briefe, das Geld und den Pass aus dem Versteck in der Kommode, wickelte die Briefe in zwei Mülltüten, verschnürte sie und legte sie mit der sauberen Wäsche, der Isoliermatte, dem Wasseraufbereitungsgerät, dem Topf und den beiden Taschenlampen in den Koffer, den er zum Rucksack umfunktioniert hatte. Das Geldbündel steckte er in den rechten Schuh, den Pass in den linken. Den Schlafsackund den Kocher stellte er auf die Kommode, vielleicht hatten Miguel und Jay Jay Verwendung dafür. Er holte das Messer aus dem Badezimmer und band es sich um die Wade, dann schob er den Koffer zu dem anderen unter das Bett und verließ das Zimmer. Die Eidechse, zu deren Revier offenbar der Bereich vor seiner Tür gehörte, schlingerte über den Flur und verschwand hinter dem Kühlschrank. Neben den Illustrierten auf dem Tisch lag ein Bleistiftstummel. Tobey steckte ihn ein und ging hinaus.
    Er sah die Sonne seit langer Zeit zum ersten Mal wieder klar und grell, nicht halb verborgen unter der schwammigen Dunstschicht einer Wetterfront, die er nicht deuten konnte. Der Himmel um sie herum war blau, nur am Horizont verharrten Wolkenpakete, bauschige Zirrusgebilde, deren Farbe und Bewegungslosigkeit Tobey im Unklaren über ihre Absichten ließen. Ein Wind blies, wehte eine Handvoll trockener Blätter über den Platz und setzte danach minutenlang aus, stieß dann in einer Böe herab, rüttelte in den Kronen der Bäume und verpuffte, bevor er den Boden erreichte und Tobey hätte sagen können, aus welcher Richtung er gekommen war und ob er den Geruch nach Regen in sich trug.
    Er ging zum Strand, suchte zwischen dem Treibholz nach einem Brett und fand das leicht gekrümmte Stück einer Schiffsplanke. Im Schatten sitzend, reinigte er die von Algen und weizenkorngroßen Muschelgehäusen bedeckten Stellen mit dem Messer, nahm den Bleistift aus der Hosentasche und schrieb MEGAN O FLYNN auf die sonnenwarme Fläche. Mit der Messerspitze ritzte er die Konturen ins Holz und begann schließlich, jeden Buchstaben etwa zwei Millimeter tief herauszuschälen. Dabei gingen ihm tausend Geschichten durch den Kopf. Bilder, verschwommen und wacklig, tauchten auf, wurden für Sekunden klar und verschwanden im Dunkel, aus dem ständig neue Bilder hochstiegen, blass erst und dann mit leuchtenden Farben, leinwandgroß und drängend, an den Rändern gleißend. Die Wellen rollten heran und brachen sich fast geräuschlos auf dem flachen Strand, und er dachte an den Tag, an dem er zum ersten Mal in die Schule musste und an Megans Hand zur Bushaltestelle ging, wo er sie losließ, weil andere Kinder da waren und ihn für einen Angsthasen hätten halten können, und er erinnerte sich an das Gefühl, das er nach diesem Loslassen hatte, das Gefühl brennend heißer Scham und herzzerreißender Leere nach einem Verrat, der nie mehr und durch nichtswiedergutzumachen wäre. Er dachte an Dennis Fahy, der ihn nach der Schule verprügelt hatte, weil er Lust darauf hatte und stärker war, und dem Megan mit einem einzigen Faustschlag die Nase brach. Er sah sich am Ast eines Baumes hängen und Megan über die Wiese rennen, mit beiden Armen eine Leiter über dem Kopf tragend wie Flügel ohne Bespannung. Er sah sie im zurückgelassenen Nachthemd der Mutter über den Hof gehen, langsam und gebückt, Mondlicht auf den Schultern. Er sah sie schluchzend am frischen Grab

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