Auf den Schwingen der Hölle - [ein Norwegen-Krimi]
empfand ihren Blick als feindselig.
Mit einer heftigen, ja beinahe wütenden Handbewegung verjagte er sie.
Sarahs Miene wirkte ernst, man konnte nicht glauben, dass sie noch vor wenigen Augenblicken so befreit gelacht hatte.
Wortlos und mit hängenden Schultern trat sie in die Hütte zurück.
Hätte sie doch nur die Stärke der antiken Medea, dachte er, sie ist für eine tödliche Rache einfach zu schwach, sie vergibt auch zu rasch, Vergebung aber ist Schwäche, nichts anderes.
Er wälzte sich in seinem Bett herum, fand keinen Schlaf, aber es war nicht die Helligkeit, die ihn quälte, es war der Gedanke, dass in diesem Bett, in dem er lag, Emmerlein gelegen haben konnte. Diese Überlegung aber war ungeheuerlich, das Schicksal spielte ihm einen üblen Streich, doch war es ihm andererseits auch wiederum gewogen, wenn er an die Auskünfte der jungen Norwegerin und die Andeutung dachte, dass er bald den Aufenthaltsort Emmerleins erfahren werde.
Schlafen wollte er, aber es gelang ihm nicht, es war, als müsse er die Minuten zählen, als triebe er in einem Zeitfluss, der langsam dahinfloss wie Lava. Welches Dorf auf den Vesterälen würde ihm wohl genannt werden?
Die Mitternachtssonne tauchte den Raum, obwohl die Übergardinen die Fenster bedeckten, in ein seltsames, unwirkliches Dämmerlicht, da der Himmel wolkenfrei war und sie ungehindert strahlen konnte.
Als er die Augen schloss, überfluteten ihn erneut die Erinnerungen …
Er holt Manu aus dem Krankenhaus in die Wohnung in Leipzig-Lößnig, in die Siedlung, die Baugeschichte schrieb. Acht gelbe Gebäude bilden einen äußeren, niedrigen Ring, zwölf kleinere, einen mittleren und vier den innersten, höchsten, der eine Wiese umschließt mit Bäumen. Dort wohnen sie.
Er ist im Stadtteil Plagwitz und rudert den Kahn vorbei an den so prachtvoll sanierten einstigen Fabrikgebäuden am Karl-Heine-Kanal, aus roten Backsteinen gebaut, die weiße Querstreifen zieren. Er rudert inmitten des größten Flächendenkmals der Industriezeit in Deutschland, wo einst das industrielle Herz Leipzigs schlug, als das Land noch DDR hieß. »Schneller, Paps!«, feuert Manu ihn an.
Und er sieht Sarah und Manu stehen, Hand in Hand, bereit für ein Foto vor dem bunten Wohnhaus mit Fischer-Art-Fassadenbemalung vom Boden bis hin zum Dach.
Mit Sarah und Manu ist er dort, wo die städtischen Parkanlagen übergehen in den Auenwald zwischen Floßgraben und Pleiße, im Wildpark, wo man die Rehe sehen kann und die Wildschweine, die Manu so liebt.
Er sieht Manu mit der Schultüte, die so bunt ist und so groß; glücklich, stolz und erwartungsvoll gestimmt auf die Geschenke, die sie in ihr entdecken wird.
Da sitzt er am Bett der kranken Manu, eine ganze Nacht lang, obwohl er früh zur Arbeit muss, aber ihre kleine Hand will seine Hand nicht freigeben und so fügt er sich ihrem Willen, wie er es immer tut, so bewacht er ihren Schlaf, Minute um Minute, Stunde um Stunde. Einmal steht Sarah hinter ihm, wortlos, schüttelt ihren Kopf, verlässt wieder den Raum, um sich in ihr Bett zu legen. Er aber folgt ihr nicht, er bleibt weiter sitzen an Manus Bett, mal in einen kurzen Schlaf verfallend, mal wieder wachend, wenn Manu im Schlaf unverständliche Worte spricht.
Da sieht er Manu, die ihm ihr Zeugnis reicht, das Zeugnis der dritten Klasse. Nie in seinem Leben hat er ein besseres gesehen, und sein Stolz auf Manu ist unermesslich. Jeden Wunsch würde er ihr erfüllen, auch gegen Sarahs Widerstand, nie würde er nachgeben, wenn es um seine Tochter geht, sie ist sein Leben, mit Haut und Haaren hat er sich ihr verschrieben.
Nie war der Gedanke der Vergeltung aus seinem Kopf gewichen, kein Erlebnis danach, auch wenn es noch so schön war, hatte ihn verdrängen können, der Drang nach Rache war immer da gewesen, Teil seines Lebens geworden, auch dann, als Sarahs Trauer sich langsam minderte. Vielleicht aber trauerte sie auch still oder auch nur unbewusst, sie konnte wohl vergeben, er aber würde nie vergeben können. Oben, auf diesem schmalen Grat über Reine, hätte er Emmerlein in die Tiefe gestürzt, auch wenn er selbst dabei mit in den Tod gegangen wäre, fest an ihn gekrallt, um ihm beim Sterben in die Augen zu starren.
Er schluchzte auf, aber seine Augen blieben trocken, denn weinen würde er erst wieder können, wenn Emmerlein tot war und irgendwo im Sand der Grasdünen lag. Selbst dann würde er noch immer um Manu trauern, aber die Trauer würde anders sein, eine befreite Trauer, ohne den
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