Auf den Schwingen der Hölle - [ein Norwegen-Krimi]
leichter Hieb würde genügen und Zeugen gäbe es nicht.
Sarah muss meine Gedanken erraten haben, überlegte er, denn fahl ist ihr Gesicht geworden, sehr fahl. Natürlich kann es auch an der Anstrengung liegen. Möglicherweise werde ich lange auf Emmerlein warten müssen, Stunden vielleicht, aber er könnte auch im nächsten Augenblick den Grat betreten.
»Geh fünfzig Meter nach unten und warte«, schlug er Sarah heiser vor, denn nun lag sie vor ihm, die Einsamkeit des Tötens, bei der er keine Zeugen wünschte und schon gar nicht Sarah.
Sie schluckte schwer.
»Überleg es dir noch einmal«, sagte sie leise. »Wollen wir es nicht lassen?«
»Geh!«, herrschte er sie an. »Geh nach unten! Auf der Stelle!« Noch nie hatte er so mit ihr geredet.
»Es kann einige Stunden dauern«, rief er ihr nach. »Aber warne mich, wenn Menschen nach oben kommen.«
So wartete er nun und wartete, und er war allein in dieser grandiosen Welt. Mit leuchtender Klarheit lag das Wasser unter ihm, und eine grauschwarze Wolkenwand zog am Himmel dahin, so dicht, dass die Sonne keine Lücke fand, um sie zu durchdringen. Auch der Wind begann an Schärfe zuzunehmen.
Könnte es vielleicht doch einen anderen Abstieg geben, grübelte er. Doch nun blieb ihm nur das Warten …
Da, unversehens, sah er die Gestalt, die auf der gegenüberliegenden Seite eilig den Grat betrat, einen schlanken, offenbar jungen Mann, der auf dem Kopf eine wollene Mütze trug, dunkelblau.
Wie lange, dachte er, habe ich Emmerlein nicht gesehen, eine Ewigkeit ist es her, nur im Gerichtssaal war es gewesen. Wenn ich nun den Falschen in die Tiefe stoße?
Sein Herz schlug wild, als er selbst den Grat betrat, um genau in dessen Mitte auf Emmerlein zu warten, mit der tödlichen Tiefe zu beiden Seiten. Der Wind riss ungestüm an seinem Anorak, als wollte er ihn zerfetzen.
Der Mann, der ihm entgegenkam, hatte die Mütze tief in die Stirn gezogen, um sein Gesicht wohl so vor dem Wind zu schützen.
Plötzlich setzte schlagartig ein Regen ein, der von Minute zu Minute an Heftigkeit zunahm. Er bemerkte, dass der Fremde rasch eine Kapuze über den Kopf zog, die nun sein halbes Gesicht verdeckte.
Ist es das Gesicht Emmerleins? überlegte er. Aber ich kann die Augen nicht sehen und die Haare, so muss ich diesen Fremden erschrecken, um aus seiner Reaktion erkennen zu können, ob ich Emmerlein vor mir habe oder nicht.
Rutschig schien ihm der Boden zu sein, auf dem er schritt.
Und wenn er selbst in die Tiefe stürzte?
Der Regen wurde dichter und dichter, wurde zu einer Wand aus fallendem Wasser, und so sah er die Gestalt, die auf ihn zukam, nur wie eine Kontur, die zu zerfließen schien, als wäre sie ein Teil dieses Infernos.
Der Regen lief ihm über das Gesicht und in den Mund. Sein Herz schlug immer heftiger. Jetzt würde es geschehen, in diesem Höllenwetter, ohne Zeugen, ohne Laut. Es war unfassbar. Und jede Spur würde das Wasser auslöschen!
Näher und näher kam die Gestalt, mit vorsichtigen Schritten, die Augen fest auf den Boden gerichtet, da jedes Straucheln den Tod bringen konnte!
Noch fünf Meter trennten sie, noch drei, noch zwei.
Und dann standen sie sich gegenüber, Auge in Auge.
»Emmerlein!«, schrie er gegen den Regen und den heulenden Wind an.
Der Fremde wich erschrocken einen Schritt zurück, wobei er beinahe gestrauchelt und hinabgestürzt wäre in die gähnende Tiefe aus regengrauem Dunkel.
Er ist es, frohlockte Bachmann.
»Ich bin ihr Vater!«, schrie er. »Ich habe immer auf dich gewartet, in all den Jahren. Ich bin dir gefolgt bis zu diesem Ort. Ich werde dich hinabstürzen!«
Vor Erregung und Hass bebte er am ganzen Körper.
In den Augen des Anderen, die sich geweitet hatten, stand grenzenlose Angst.
»Ich bin nicht dieser Mann!«, brach es verzweifelt aus ihm heraus, wobei er die Handflächen wie zur Abwehr nach vorn streckte, als wären sie Schilde. »Sie müssen mich verwechseln, Mann! Sie sind ja wahnsinnig!«
Der Regen rauschte, als er den Fremden eindringlich und schweigend musterte, minutenlang.
»Wie willst du mir das beweisen?«, brüllte er dann zurück, und der Wind zerrte an ihm, als wollte er ihn in den Abgrund reißen.
»Durch meinen Ausweis!«, vernahm er. »Ich habe ihn in meiner Brieftasche. Ich kann ihn zeigen! Auf der Stelle!«
»Zeig ihn!«, forderte er drohend. »Aber zieh nichts anderes aus deinem Anorak! Ein Tritt von mir und dein Sturzflug beginnt.«
Der Fremde nickte und der Regen lief ihm über das Gesicht.
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