Auf den Schwingen des Adlers
amerikanische Flüchtlinge. Wenn er eine Entscheidung treffen muß, schmeißt er uns erst mal ins Gefängnis und beschäftigt sich später mit uns, irgendwann, wenn er gerade Zeit dazu hat. Also muß ich dafür sorgen, daß er keine Entscheidung trifft.
Raschid wurde in ein Klassenzimmer geführt. Der Anführer saß auf dem Fußboden, ein großer, kräftiger Mann, auf dessen Gesicht sich die Freude über den Sieg widerspiegelte; gleichzeitig wirkte er erschöpft, verwirrt und rastlos. Raschids Begleiter sagte: »Dieser Mann kommt aus Mahabad mit einem Brief des dortigen Mullah. Bei ihm sind sechs Amerikaner.«
Raschid fiel ein Film ein, den er gesehen hatte, in dem ein Mann ein bewachtes Gebäude betrat und statt eines Passierscheins seinen Führerschein zückte. Mit genügend Selbstsicherheit konnte man das Mißtrauen anderer unterlaufen. »Nein, ich komme vom Teheraner Revolutionskomitee«, sagte Raschid. »In der Hauptstadt sind fünf- bis sechstausend Amerikaner, und wir haben beschlossen, sie heimzuschicken. Der Flughafen ist geschlossen, deshalb bringen wir sie auf diesem Weg außer Landes. Natürlich müssen wir dies alles erst organisieren und die nötige Routine entwickeln. Deswegen bin ich gekommen. Aber du hast sicher eine Menge um die Ohren; vielleicht berede ich die Einzelheiten besser mit deinen Untergebenen.«
»Ja«, sagte der Anführer und winkte sie hinaus.
Das nannte man die Technik der großen Lüge, und es hatte funktioniert.
»Ich bin sein Stellvertreter«, sagte Raschids Begleiter, als sie den Raum verließen. Sie gelangten in ein weiteres Zimmer, in dem fünf oder sechs Leute gerade Tee tranken.
Raschid sprach mit dem Vize, und zwar so laut, daß die anderen alles mitanhören konnten. »Diese Amerikanerwollen bloß nach Hause zu ihren Familien. Wir sind froh, daß wir sie loswerden, wollen sie aber gut behandeln, damit sie keine Aversionen gegen die neue Regierung entwickeln.«
»Warum hast du denn jetzt Amerikaner mitgenommen?« fragte der Vize.
»Für einen Probelauf. Weißt du, so finden wir am besten heraus, wo die Schwierigkeiten liegen ...«
»Aber du darfst sie doch nicht über die Grenze lassen.«
»Oh, doch. Das sind gute Männer, die unserem Land niemals Schaden zugefügt haben, und zu Hause warten ihre Frauen und Kinder auf sie; einer von ihnen hat ein kleines Kind, das im Krankenhaus liegt und wahrscheinlich sterben muß. Das Revolutionskomitee in Teheran hat mich also beauftragt, sie über die Grenze zu führen ...«
Raschid redete und redete. Von Zeit zu Zeit unterbrach ihn der Vize mit einer Frage. Für wen arbeiteten die Amerikaner? Was hatten sie alles bei sich? Woher wußte Raschid, daß sie keine SAVAK-Agenten waren, die für die Konterrevolutionäre in Täbris spionierten? Auf jede Frage hatte Raschid eine Antwort, und zwar eine sehr ausführliche. Solange er sprach, konnte er die anderen überzeugen; doch sobald er schwieg, hatten sie Zeit, sich Einwände einfallen zu lassen. Ständig gingen Leute ein und aus. Auch der Vize verließ zwischendurch drei- oder viermal den Raum.
Schließlich kam er wieder herein und sagte: »Ich muß das mit Teheran abklären.«
Raschids Mut sank. Natürlich würde kein Mensch in Teheran seine Geschichte bestätigen. Aber es würde ewig dauern, nach Teheran durchzukommen. »Es ist schon alles in der Hauptstadt überprüft worden, und es besteht keine Notwendigkeit, es noch einmal zu überprüfen«, sagte er. »Aber wenn du darauf bestehst, bringe ich diese Amerikaner in ein Hotel, wo sie warten können.« Und er fügte hinzu: »Du gibst uns besser ein paar Wachmänner mit.«Das hätte der Vize ohnehin getan, aber danach zu fragen, mochte sein Mißtrauen noch weiter abbauen.
»Ich weiß nicht recht«, sagte der Mann.
»Hier können wir sie nicht gut lassen«, sagte Raschid. »Das könnte gefährlich werden. Sie könnten zu Schaden kommen.« Er hielt den Atem an. Hier saßen sie in der Falle. In einem Hotel dagegen hätten sie zumindest die Chance, auszubrechen und sich Richtung Grenze aufzumachen ...
»Einverstanden«, sagte der Vize.
Raschid verbarg seine Erleichterung.
*
Paul war zutiefst dankbar, als er Raschid die Stufen vor der Schule herunterkommen sah. Sie hatten lange warten müssen. Zwar hatte sie niemand mit einem Gewehr bedroht, aber sie waren Zielscheibe einer Menge feindseliger Blicke gewesen.
»Wir können ins Hotel ziehen«, sagte Raschid.
Die Kurden schüttelten ihnen reihum die Hände und fuhren in ihrem
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