Auf den Schwingen des Adlers
protestiert hatte, weil keine Beweise gegen sie vorlägen. Typisch amerikanisch! Natürlich gab es keine Beweise: Schmiergelder zahlte man schließlich nicht per Scheck. Die Botschaft äußerte außerdem ihre Besorgnis um die Sicherheit der beiden Gefangenen. Razmara fand das lächerlich. Er hatte genug mit seiner eigenen Sicherheit zu tun. Jeden Morgen, wenn er ins Büro ging, fragte er sich, ob er am Abend lebendig nach Hause kommen würde. Weder für EDS noch für deren inhaftierte Manager empfand er Mitgefühl. Und er war sich im klaren darüber, daß er selbst dann, wenn er für die Entlassung der beiden gewesen wäre, dieselbe nicht hätte durchsetzen können. Die antiamerikanische Stimmung im Volk näherte sich dem Siedepunkt. Die Regierung Bakhtiar, der Razmara angehörte, war vom Schah eingesetzt worden und schon deswegen dem weitverbreiteten Verdacht ausgeliefert, proamerikanisch zu sein. Das Land befand sich im Umbruch. Jeder Minister, der sich für das Wohlergehen von ein paar habgierigen Lakaien des amerikanischen Kapitalismus einsetzte, würde gefeuert, wenn nicht gar gelyncht werden – und dies mit vollem Recht.
Razmara wandte sich wichtigeren Dingen zu.
Am nächsten Tag sagte seine Sekretärin zu ihm: »Mr. Young von der amerikanischen Firma EDS ist da und möchte Sie sprechen, Herr Minister.«
Die Arroganz dieser Amerikaner konnte einen rasend machen. »Wiederholen Sie ihm, was ich gestern gesagt habe«, zischte Razmara. »Und geben Sie ihm genau fünf Minuten zum Verschwinden.«
*
Bill Gaylords größtes Problem war die Zeit.
Er war aus anderem Holz geschnitzt als Paul, der – rastlos, aggressiv und willensstark – vor allem an seiner Hilflosigkeit litt. Bill war von eher sanftem Naturell. Er erkannte, daß ihm nichts anderes übrig blieb als zu beten – also betete er. Er tat dies, da er um seine Religiosität nicht viel Aufhebens machte, meist in den Nachtstunden oder frühmorgens, wenn die anderen noch schliefen.
Die quälende Langsamkeit, mit der die Zeit verstrich, zermürbte ihn. Draußen in der Welt verging ein Tag wie im Fluge, da gab es Probleme zu lösen, Entscheidungen zu fällen, Telefonate entgegenzunehmen und Termine einzuhalten. Ein Tag im Gefängnis dagegen wollte und wollte kein Ende nehmen. Bill stellte sogar eine Tabelle zur Umrechnung von Normalin Gefängniszeit auf:
Normalzeit
Gefängniszeit
1 Sekunde
= 1 Minute
1 Minute
= 1 Stunde
1 Stunde
= 1 Tag
1 Woche
= 1 Monat
1 Monat
= 1 Jahr
Er war nicht wie ein überführter Verbrecher zu drei Monaten oder fünf Jahren verurteilt worden, und so konnte er auch keinen Trost darin finden, einen Kalender als Countdown bis zur Freilassung in die Zellenwand zu ritzen. Wie viele Tage vergingen, spielte keine Rolle. Die Dauer seiner Haftzeit war nicht absehbar und daher endlos.
Seine persischen Zellengenossen schienen nicht so zu empfinden. Darin offenbarte sich der kulturelle Gegensatz: Die Amerikaner, zu schnellen Entscheidungen erzogen, quälte die Ungewißheit; die Iraner gaben sich damit zufrieden, auf farda zu warten – morgen, nächste Woche, irgendwann – genauso, wie sie auch im Geschäftsleben handelten.
Als jedoch die Macht des Schahs ins Wanken geriet,vermeinte Bill, bei einigen Anzeichen von Verzweiflung zu entdecken, und er begann, ihnen zu mißtrauen.
Mit der Zeit fühlte er sich wie ein routinierter Knastbruder. Er lernte, den Schmutz und das Ungeziefer zu ignorieren, und er gewöhnte sich an die Kälte und das stärkehaltige, unappetitliche Essen. Er gewöhnte sich sogar an den winzigen, genau abgegrenzten Raum, der ihm in der Zelle zur Verfügung stand – an sein »Revier«.
Irgendwie gelang es ihm, die Zeit totzuschlagen. Er las viel, brachte Paul Schach bei, machte Gymnastik in der Halle, ließ sich von den Iranern erzählen, was in den Radio- und Fernsehnachrichten berichtet worden war, und er betete. Für einen akribisch genauen Plan des Gefängnisses maß er die Zellen und Flure aus und fertigte Skizzen und schließlich Zeichnungen an. Und er führte Tagebuch. Er notierte auch die nebensächlichsten Ereignisse im Gefängnisalltag sowie alle Neuigkeiten, die er von den Leuten, die ihn besuchten, erfuhr. Allerdings schrieb er Namen nicht voll aus, sondern beschränkte sich auf Initialen, und manchmal notierte er auch Vorfälle, die er erfunden hatte, oder abgewandelte Versionen von tatsächlichen Geschehnissen, um die Aufsichtbehörden für den Fall, daß sie das Tagebuch konfiszieren und lesen sollten,
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