Auf den Schwingen des Adlers
Außenwelt zu Gesicht. Die Regierungsgebäude in der Umgebung des Justizministeriums waren beschädigt. Überall sah man ausgebrannte Autowracks und zerbrochene Fensterscheiben. Die Straßen waren voller Panzer und Soldaten, die sich jedoch tatenlos verhielten. Sie kümmerten sich weder um die Wiederherstellung der öffentlichen Ordnung, noch regelten sie den Verkehr. Der Sturz der schwachen Regierung Bakthiar schien nur mehr eine Frage der Zeit zu sein.
Was war aus den Kollegen, aus Taylor, Howell, Young, Gallagher und Coburn, geworden? Seit der Abreise des Schahs hatten sie sich nicht mehr im Gefängnis blicken lassen. Bill hoffte, daß die Verlegung von ihnen veranlaßt worden war. Vielleicht würde der Bus sie nicht in ein anderes Gefängnis, sondern auf Umwegen zum US-Luftwaffenstützpunkt bringen? Je mehr er darüber nachdachte, desto mehr glaubte er daran, daß auf irgendeine Weise ihre Entlassung arrangiert worden war. Zweifellos hatte die amerikanische Botschaft gemerkt, daß Paul undBill nach der Abreise des Schahs ernsthaft gefährdet waren, und endlich die diplomatischen Muskeln spielen lassen. Die Busfahrt war ein Täuschungsmanöver, um sie, ohne den Verdacht feindseliger Beamter wie Dadgar zu erregen, aus dem Untersuchungsgefängnis herauszukommen.
Der Bus fuhr nach Norden, durch Stadtteile, die Bill vertraut waren. Als sie den aufrührerischen Süden hinter sich ließen, begann er sich sicherer zu fühlen.
Außerdem lag der amerikanische Stützpunkt im Norden.
Der Bus bog nun auf einen Platz ein, der von einem riesigen festungsähnlichen Gebäude beherrscht wurde. Bill betrachtete es neugierig. Die Mauern waren an die sieben Meter fünfzig hoch und mit Wachtürmen und Geschützständen für Maschinengewehre bestückt. Der Platz war voller iranischer Frauen im Tschador, die einen Höllenlärm veranstalteten. War es ein Palast oder eine Moschee? Oder womöglich ein Militärstützpunkt?
Der Bus näherte sich der Festung und bremste.
Genau in der Mitte der Mauer befand sich ein großes, stählernes Flügeltor. Zu Bills Entsetzen fuhr der Bus dort vor und hielt, mit der Front zur Einfahrt, an.
Dieser furchterregende Ort war das neue Gefängnis, der neue Alptraum.
Das Tor wurde geöffnet, und der Bus fuhr durch, hielt wieder an. Hinter ihnen schloß sich das Stahltor und vor ihnen ging ein zweites Tor auf. Der Bus fuhr hindurch und hielt auf einem weitläufigen Gelände, auf dem vereinzelt Gebäude standen. Ein Wachmann sagte etwas auf Farsi, und sämtliche Gefangene erhoben sich und stiegen aus.
Bill fühlte sich wie ein enttäuschtes Kind. Das Leben ist beschissen, dachte er. Womit habe ich das verdient?
*
»Fahr nicht so schnell«, sagte Simons.
»Fahr ich unvorsichtig?« fragte Joe Poché.
»Nein, aber ich will nicht, daß du gegen die Verkehrsregeln verstößt.«
»Gegen welche Verkehrsregeln?«
»Sei einfach vorsichtig.«
Coburn unterbrach sie. »Wir sind da.«
Poché brachte den Wagen zum Stehen.
Über den Köpfen der unheimlichen Frauen in Schwarz erhob sich vor ihren Augen die riesenhafte Festung des Gasr-Gefängnisses.
»Jesusmaria«, sagte Simons. In seiner tiefen, rauhen Stimme klang ein Hauch von Ehrfurcht mit. »Seht euch bloß diesen Kasten an!«
Sie starrten auf die hohen Mauern, die riesigen Tore, die Wachtürme und die MG-Stellungen.
»Das Ding ist schlimmer als Fort Alamo«, sagte Simons.
Langsam kam Coburn zu Bewußtsein, daß das kleine Team diese Festung nicht stürmen konnte, jedenfalls nicht ohne Hilfe der gesamten US-Armee. Ihr Rettungsplan, den sie so sorgfältig ausgearbeitet und so oft geprobt hatten, war jetzt gänzlich nutzlos. Es würde keine Änderungen, keine Verbesserungen des Plans, keine neuen Szenarios mehr geben – die ganze Idee war gestorben.
Eine Weile lang blieben sie im Auto sitzen. Jeder war mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt.
»Was sind das für Frauen?« fragte Coburn laut.
»Sie haben Verwandte im Gefängnis«, erklärte Poché.
Coburn vernahm ein eigentümliches Geräusch. »Hört mal«, sagte er. »Was ist das?«
»Die Frauen«, sagte Poché. »Sie wehklagen.«
*
Zu einer uneinnehmbaren Festung emporzusehen, war Oberst Simons nichts Neues.
Damals war er noch Hauptmann gewesen, und seine Freunde nannten ihn Art, nicht Bull.
Es war im Oktober 1944. Art Simons, sechsundzwanzig Jahre alt, war Kommandant der Kompanie B des Sechsten Ranger-Infanteriebataillons. Die Amerikaner standen im Begriff, den Krieg im Pazifik zu
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