Auf Den Schwingen Des Boesen
Gewissen.
»Ich mach’s aber gern«, sagte sie. »Schließlich bist du fast zwei Wochen weg gewesen, da ist es ja wohl das Mindeste, dass ich dir etwas Warmes zu essen mache.«
»Du bist mir nichts schuldig«, versicherte ich ihr. »Ich hab das wirklich nicht verdient.«
Sie stellte die Herdplatte kleiner. »Nach allem, was du durchgemacht hast, Kind, hast du es mehr als verdient.«
Ich war überrascht und verwirrt. Warum schrie sie mich nicht an und schimpfte mich aus, weil ich abgehauen war und nach zwei Wochen Funkstille plötzlich wieder vor der Tür gestanden hatte? Warum war sie nicht fuchsteufelswild?
Sie setzte sich neben mich und nahm meine Hand. »Du hast deine Eltern verloren und so viel mehr. Ich war böse, als du fortgegangen bist, aber ich habe nachgedacht, und mir ist klar geworden, dass manches vermeidbar gewesen wäre, wenn ich besser auf dich aufgepasst hätte.«
Ich schüttelte den Kopf. »Dich trifft keine Schuld. Du hast nichts falsch gemacht.«
»Doch, das habe ich«, beharrte sie. »Ich schulde dir eine Erklärung. Ich ärgere mich, dass ich dich all das allein habe durchstehen lassen. Ich hätte dir helfen können, aber ich hatte Angst und habe wohl lieber die Augen vor der Wahrheit verschlossen. Ich hatte Angst davor, mich einzumischen.«
Ich sah ihr in die Augen und suchte nach einer Antwort. »Wovon redest du?«
Sie schluckte. »Ich habe es gewusst, mein Kind. Ich wusste alles. Ich weiß, wer du bist.«
»Wer ich …?«
»Ich weiß, dass du die Preliatin bist.«
Sie wusste es? Woher? Bislang hatte ich noch niemandem aus meiner Welt meine wahre Identität offenbart. »Das verstehe ich nicht«, murmelte ich mit bebender Stimme. »Woher kannst du das wissen?«
»Ich bin eine Seherin, Ellie«, erklärte sie. »Ich habe die Reaper schon immer wahrgenommen, aber ich hatte keine Ahnung, dass meine eigene Enkeltochter Gabriels sterbliche Hülle sein könnte. Ich habe Frank nicht geglaubt, bis er mir ein altes Foto von euch beiden und deinem Beschützer gezeigt hat.«
»Frank«, wiederholte ich nachdenklich. »Frank Meyer? Mein Lehrer?«
Sie nickte. »Es gibt nicht viele von uns, und die meisten kennen sich. Ich hatte jahrelang Kontakt mit ihm, und als er mir gesagt hat, du wärst die Preliatin, konnte ich ihm zuerst nicht glauben. Doch dann erzählten auch andere, dass du tatsächlich Gabriel seist …«
»Warum hast du nichts zu mir gesagt?« Ich entzog ihr meine Hand und konnte die Bitterkeit, die in mir aufstieg, nicht unterdrücken.
»Frank hat mir geraten, mich besser nicht einzumischen.« Sie wirkte aufrichtig zerknirscht. »Er hat versprochen, dein Beschützer würde auf dich aufpassen. Aber ich wusste, wie schwer es für dich war, und ich bedaure, dass ich mich aus allem rausgehalten habe. Und jetzt haben die Reaper Frank getötet und meine Tochter und meinen Schwiegersohn. Das ist wohl meine Strafe, nehme ich an.«
»Und ich musste die ganze Zeit lügen und alles vor meiner Familie geheim halten!«, sagte ich wütend. »Dabei wusstest du Bescheid. Ich war vollkommen auf mich allein gestellt!«
Nana schüttelte den Kopf. »Du warst nie allein. Wir haben alle auf dich aufgepasst. Frank kam ums Leben, als er einem Reaper nachjagte, der dich auf dem Heimweg verfolgt hat. Er ist gestorben, als er ihn davon abhalten wollte, seinem Herrn zu sagen, wo du wohnst. Nicht dass das jetzt noch eine Rolle spielen würde. Bastian hat immer gewusst, wo du wohnst, und er hat deinen Vater töten lassen, damit diese Bestie seinen Platz einnehmen und dich ausspionieren konnte. Das wissen wir jetzt. Aber du bist nicht allein. Dein Beschützer passt auf dich auf. Ich weiß von Will. Es tut mir leid, dass du deine Mutter über ihn belügen musstest. Sie hätte ihn viel lieber gemocht, wenn sie gewusst hätte, wie er in Wahrheit zu dir steht. Aber du hast getan, was du tun musstest.«
Ich schnaubte verächtlich. »Was ich tun musste? Du hast ja keine Ahnung, was ich tun musste! Was ich gesehen und was ich durchgemacht habe!«
»Doch, mein Schatz«, sagte sie ruhig. »Ich weiß, wo du gewesen bist. Lauren hat mir gesagt, du wärst in Sicherheit. Ich wusste, dass du bei den engelhaften Reapern sicherer warst als hier bei mir. Ich bin nur eine alte Frau. Ich hätte dir nur im Weg gestanden. Deine Suppe ist bestimmt fertig.« Sie ging zum Herd, füllte meinen Teller und legte mir ein Platzdeckchen hin. »Du musst was essen.«
Die dampfende Suppe roch köstlich, aber ich wusste nicht, ob ich sie
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