Auf Den Schwingen Des Boesen
menschlich bin«, sagte ich. Er schaute mich verwundert an, doch ich fuhr fort und wurde mit jedem Wort aufgeregter. »Nathaniel hat mir erklärt, dass die Engel im Himmel keinen freien Willen haben und niemals eigene Entscheidungen treffen können. Alles, was sie tun, geschieht auf Befehl. Ich bin jetzt menschlich, mit einer menschlichen Seele, und deshalb habe ich einen freien Willen und kann mich selbst entscheiden. Und ich entscheide mich dafür, den Krieg zu stoppen, bevor er ausbricht, statt wie Michael herumzusitzen und darauf zu warten, dass mir jemand sagt, was ich tun soll.«
Will machte ein nachdenkliches Gesicht und ließ den Blick über den See schweifen. »Ich werde dich nicht gegen Sammael antreten lassen, bevor ich weiß, dass wir ihn besiegen können. Solange er fähig ist, deine Seele zu vernichten, können wir keine Fehler riskieren. Wir haben nur einen Versuch, und wir dürfen nicht versagen.«
Er ließ sich nicht umstimmen. Natürlich wollte ich meine Seele nicht Sammael zum Fraß überlassen, aber ich konnte nicht darauf hoffen, dass jemand anders die Welt retten würde – diese Verantwortung lastete einzig und allein auf meinen Schultern. »Also, wie können wir Azrael herbeirufen und ihm zu einem festen Körper verhelfen, damit er uns helfen kann?«
»Zuerst müssen wir die richtige Reliquie und den richtigen Zauber finden«, erwiderte er. »Wenn sie es für Lilith tun konnten, dann schaffen wir dasselbe für Azrael.«
»Okay, aber wie finden wir die richtigen Sachen?«
»Der Zauber, der einem Engel einen physischen Körper schenkt, wird anders sein, aber die Information ist bestimmt im Grimoire zu finden.«
»Das Buch, das Sammael bei sich hatte?«
»Ja.«
»Das reinste Kinderspiel, es zu beschaffen.« Frustriert lehnte ich mich zurück und verschränkte die Arme vor der Brust. »Wenn wir Azrael nicht in die Lage versetzen können, gegen Sammael zu kämpfen, werden wir einen Erzengel brauchen.«
Er presste die Lippen aufeinander, bis sie einen schmalen Strich bildeten. »Das wärst dann wohl du.«
Ich blinzelte ungläubig. »Wie bitte?«
»Als letzten Ausweg müssten wir herausfinden, wie du wieder aufsteigen und zu Gabriel werden kannst.«
»In dieser Welt?«, fragte ich zweifelnd. »Auf der Erde? In der Welt der Menschen?«
»Ich weiß nicht, ob das möglich ist«, räumte er ein. »Aber wenn es zum Schlimmsten kommt, müssen wir es versuchen. Ich weiß nur nicht, ob die Umwandlung dich vernichten oder was mit deiner Seele geschehen würde, wenn du als Gabriel ums Leben kämst. Vielleicht würdest du nicht als Mensch zurückkehren oder gar nicht.«
Ich runzelte die Stirn. »Wenn es mir möglich sein sollte, in dieser Welt ein Erzengel zu werden, müssen wir herausfinden, wie das geht.«
»Das werden wir«, sagte er sanft. »Alles wird gut.«
Doch da hatte ich meine Zweifel. Es würde schon schwierig genug werden, Azrael herbeizurufen und ihn zu überreden, für uns zu kämpfen, aber die minimale Chance, dass ich möglicherweise in meine Erzengelform zurückkehren könnte … ich hatte keine Ahnung, was das wirklich bedeuten würde. In den vergangenen Monaten hatte ich nach und nach begriffen, wer ich wirklich war, und das ging weit über meine derzeitige Daseinsform hinaus. Ich erinnerte mich an meine vergangenen Lebzeiten und deckte Schritt für Schritt ihre Geheimnisse auf, aber von meiner Existenz als Gabriel hatte ich keinerlei Vorstellung. Ich spürte ein wenig, erkannte Sammael und Lilith wieder, doch es ging immer um Dinge, die sich auf der Erde abgespielt hatten. Ich wusste meinen wahren Namen, hatte aber keine Ahnung, wer ich wirklich war. Ich wusste nicht, wie ich als Gabriel war. Ich wusste nicht, wie stark ich mich verändern würde.
»Ich habe vor mir selber Angst, Will«, gestand ich ihm, während der eisige Wind vom See mir ins Gesicht fegte. »Ich fürchte mich davor, Gabriel zu werden. Die Engel fühlen nichts. Ich möchte mich nicht verlieren, wenn ich ein Erzengel werde. Ich habe Angst, dass ich dich vergesse, dass ich dich nicht mehr lieben werde, weil ich nicht mehr dazu imstande bin.«
Seine Kiefermuskeln traten hervor, und er sah mich traurig an. »Das spielt keine Rolle. Es ist nicht so wichtig wie …«
»Aber mir ist es wichtig«, schnitt ich ihm das Wort ab. »Dein selbstloses Gequatsche geht mir auf die Nerven. Du bist mir wichtig. Ich habe Angst, dass ich alles verliere, was ich in meinem Innersten fühle, wenn ich wieder zu Gabriel
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