Auf Den Schwingen Des Boesen
Purell-Spender. Da kannst du dir die Pfoten desinfizieren. Geh bloß nicht mit deinen Pissgriffeln an den Wasserhahn.«
Leise vor sich hinwimmernd huschte das Mädchen aus der Toilette und knallte die Tür hinter sich zu.
»Musste das sein, Kate?«, fragte ich vorwurfsvoll. »Das war ziemlich mies.«
»Na und? Wir haben nur noch zehn Minuten Mittagspause, und wir müssen reden.«
»Worüber?«
»Wann willst du mir endlich erzählen, was passiert ist?«, fragte sie. »Und wo du gewesen bist?«
Seit Monaten war ich diesem Gespräch ausgewichen, weil ich sie nicht mehr belügen wollte und nicht wusste, wie ich ehrlich zu ihr sein sollte, ohne sie in mein Chaos hineinzuziehen. »Ich war bei Will und einer gemeinsamen Bekannten. Da war ich in Sicherheit.«
In Sicherheit. Sobald ich die Worte ausgesprochen hatte, wurde mir klar, wie unwahr sie waren. Merodach und Kelaeno hatten uns gefunden und Nathaniel getötet.
Kate nickte und schenkte mir einen nachsichtigen Blick. »Ich bin froh, dass du bei ihm warst. Ich hatte solche Angst, du wärst die ganze Zeit allein gewesen, aber deine Grandma meinte immer, es würde dir gut gehen.«
Ich zuckte die Achseln. »Na ja. Ich musste einfach eine Weile untertauchen, auch wenn ich damit gegen sämtliche Moralvorstellungen verstoßen habe.«
Sie lachte nicht. »Das kann dir niemand verdenken. Ich mag mir gar nicht vorstellen, was du durchgemacht hast. Ich wünschte nur, ich hätte für dich da sein können.«
»Ich habe dich vermisst«, sagte ich. »Aber ich kam einfach nicht damit klar … Ich habe die Schuld bei mir gesucht und wusste nicht mehr ein und aus. Als wäre alles um mich zusammengebrochen.«
Als Kate mich in die Arme schloss und ganz fest an sich drückte, war es um meine Fassung geschehen. Ich legte den Kopf auf ihre Schulter und konnte nicht mehr aufhören zu weinen. Ich hatte sie so vermisst. In ihren Armen wurde mir klar, wie falsch es gewesen war, sie auszuschließen. Sie war wie eine Schwester für mich, und ich hatte meine Eltern verloren. Ich brauchte einen Anker für meine Menschlichkeit, und ich hatte praktisch die Kette durchtrennt und mich davontreiben lassen.
»Es tut mir so leid«, schniefte ich an ihrem Pulli.
»Ist schon gut«, murmelte sie. »Hauptsache, du kommst wieder in Ordnung.«
Ich löste mich aus ihrer Umarmung und zwang mich zu einem Lächeln, während ich mein Gesicht und ihre Schulter abwischte. »Ich hab deinen Pulli vollgesabbert«, sagte ich und versuchte ein Lachen.
Sie lächelte zurück und zuckte die Achseln. »Ich bring ihn einfach in die Reinigung. Dann kann sich jemand anders damit herumärgern.«
»Du bist schrecklich«, sagte ich und schniefte laut. »Ich hab dich lieb.«
»Ich dich auch.«
Ich lehnte mich an den Waschtisch, verschränkte die Arme vor der Brust und schaute zu Boden. Eine Weile blieb es still. »Mein Dad hat meine Mom nicht umgebracht«, sagte ich schließlich. »Das weiß ich ganz sicher. Wer auch immer sie umgebracht hat, hat sie beide umgebracht.«
Kate trat an meine Seite. »Hör zu, Ellie. Wenn du irgendetwas weißt, dann musst du zur Polizei gehen.«
»Ich …« Ich verstummte und schüttelte den Kopf. »Ich weiß nichts, was der Polizei weiterhelfen würde, aber ich weiß, dass sie den, der das getan hat, niemals kriegen werden.«
»Unterschätz die Polizei nicht. Die Cops machen gute Arbeit. Es ist ihr Job, Verbrechen aufzuklären.«
Dieses würden sie aber niemals aufklären. »Ich weiß«, sagte ich, da ich nicht mit ihr darüber streiten mochte.
»Wie steht es mit dir und Will?«, fragte sie und wechselte das Thema. »Alles in Ordnung zwischen euch?«
Ich nickte und zuckte gleichzeitig die Achseln. »Ja, schon. Es ist nur schwierig. Er … hat seinen besten Freund verloren, kurz nach dem Tod meiner Mutter – den Freund, bei dem wir gewohnt haben.«
Sie runzelte die Stirn. »Wow. Unglaublich, dass ihr beide gleichzeitig so was Schreckliches durchmachen müsst!«
Ich seufzte. Für zwei Durchschnittsmenschen mochte dieses doppelte Unglück ein unwahrscheinlicher Zufall sein. Aber nicht für Will und mich. Wir waren ständig vom Tod umgeben.
Kates Handy klingelte, und sie holte es aus der Tasche. »Marcus simst, dass er eine Überraschung für mich hat. Bestimmt schon wieder einen Muffin. Der Junge sorgt noch dafür, dass ich fett werde.«
»Aber es ist doch nett, wenn er dich in der Schule überrascht«, sagte ich sehnsuchtsvoll und ein bisschen neidisch, obwohl es falsch war, so
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