Auf Den Schwingen Des Boesen
entkommen?«
Erst jetzt wandte sie den Blick ab. »Will. Er hatte von dem Herzog gehört, der engelhafte Reaper als Sklaven hielt. Er ist gewaltsam ins Schloss eingedrungen und hat den dämonischen Vir getötet, wodurch ich frei wurde. Der magische Bann wurde aufgehoben und meine Macht wieder entfesselt, aber diese Tätowierung wird immer für aller Augen sichtbar bleiben.« Sie hielt inne und sah mich wieder an. Ihre Mundwinkel verzogen sich andeutungsweise zu einem Lächeln. »Aber das spielt keine Rolle, denn ich bin frei. Ich verdanke Will alles.«
Ich antwortete nicht, doch die Ereignisse ihrer Rettung spielten sich wie ein Horrorfilm vor meinem inneren Auge ab.
»Verstehst du jetzt, warum ich ihn so schätze?«
Das tat ich. Wie hätte sie sich ihm nicht verbunden fühlen sollen, nachdem er sie aus ihrem grauenhaften Martyrium befreit hatte?
»Du weißt es, nicht wahr?«, fragte sie und suchte meinen Blick. Wie ein Schleier hing ihr schwarzes Haar über ihren Schultern. Ihre Stimme war sanft, als spräche sie mit einem verletzten Tier. »Er hat es dir gesagt. Das habe ich mir schon gedacht.«
Ich öffnete den Mund, um zu antworten, brachte jedoch kein Wort heraus. Ich wusste einfach nicht, was ich sagen sollte. Mit ihr darüber zu sprechen machte das, was ich wusste, tausendmal realer. Ich verscheuchte die Bilder von Will und Ava und all den anderen Mädchen, mit denen er zusammen gewesen sein mochte. Ich mochte nicht daran denken, dass ihn eine andere genauso lieben könnte wie ich.
»Ich bin nicht in ihn verliebt«, sagte Ava, als hätte sie meine Gedanken gelesen. Bevor ich darauf antworten konnte, fuhr sie fort. »Nicht mehr. Er hat mich nie geliebt. Niemals. Man merkt ja, ob jemand einen liebt oder nicht, und bei ihm war ich mir immer sicher, dass er mich nicht liebt. Du warst eine unüberwindliche Konkurrenz.«
Ich starrte sie an und wusste nicht, wie ich reagieren sollte. Unser Schweigen wurde nur durch das Ticken von Nathaniels Schreibtischuhr unterbrochen.
»Als wir uns kennenlernten, habe ich dich abgelehnt, aber gehasst habe ich dich nie. Tut mir leid, dass ich so unfreundlich war. Ich habe einfach nicht verstanden, wie er dir so lange treu ergeben sein konnte. Er kann immer nur kurze Zeit mit dir verbringen, bevor du wieder stirbst, und dann ist er wieder viele Jahre lang einsam. Ich konnte es nicht ertragen, ihn leiden zu sehen, besonders nicht beim letzten Mal, als du so lange fort warst und es aussah, als würdest du nicht zurückkehren. Du wirst niemals ganz verstehen, was er durchgemacht hat. Ich war wütend auf dich, weil du ihm so viel Schmerz bereitet hast, weil er mir das Leben gerettet hat, mir das Leben geschenkt hat, und weil ich damals in ihn verliebt war.«
Mein Herz hämmerte in meiner Brust. Ihre schonungslose Offenheit raubte mir den Atem. »Ava, ich …«
»Ich war eifersüchtig«, fuhr sie fort und lächelte wehmütig. »Ich wollte, dass Will mich liebte, aber sein gebrochenes Herz hat immer nur dir gehört, selbst als er glaubte, dich für immer verloren zu haben. Er hat alles für dich aufgegeben, und Zane war nicht bereit, auch nur das geringste Opfer für mich zu bringen.«
»Das stimmt nicht ganz«, lenkte ich ein. »Will ist mein Beschützer, so wie Zane der Hüter der Reliquie war. Ein großer Teil dessen, was sie tun, gehört zu ihren Pflichten. Sie müssen alles aufgeben, wenn sie zum Beschützer werden. Zane war da keine Ausnahme, genauso wenig, wie Will eine ist.«
Der Hauch eines Lächelns umspielte ihre Lippen, und der blauviolette Farbton ihrer Augen wurde intensiver, als ihre Emotionen an die Oberfläche drängten. »Zane war gut zu mir, und ich habe mich immer zu Leuten hingezogen gefühlt, die sich um mich kümmern. Vor sehr, sehr langer Zeit waren Zane und ich ein Paar, doch er hat mich nie so geliebt, wie ich geliebt werden wollte.« Ihr Lächeln wurde strahlender, und ihre kalten Augen bekamen einen warmen Schimmer. »Und dann war ich auch noch neidisch, weil ich noch niemanden gesehen habe, der den dämonischen Reapern so heftig zu Leibe rückt wie du. Und weil ich gesehen habe, wie du für Will kämpfst, und ich verstehen kann, warum er so viele Opfer für dich bringt. Diesen Blick, mit dem er dich anschaut, habe ich noch bei keinem anderen gesehen.«
Ich dachte an Wills Gesicht und jenen Ausdruck in seinen Augen, den ich so liebte, und ein Gefühl der Wärme durchströmte meinen Körper. Ich mochte mir nicht vorstellen, wie einsam und
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