Auf Den Schwingen Des Boesen
ziemlich ernste Drohung.«
Ich sah ihm direkt in die Augen. »Sie meint, er wird sterben.«
»Der Name des weiblichen Vir war Kelaeno«, meldete Ava sich zu Wort. »Klingt das nicht irgendwie vertraut, Nathaniel?«
»Ja«, bestätigte er. »Aeneas und die Harpyen. Aber das ist nur eine alte griechische Sage.«
Avas Blick verfinsterte sich. »Und wenn sie nicht erfunden ist?«
Will blieb stumm, und seine Züge verhärteten sich.
»Wovon redest du da?«, fragte ich. »Was ist mit der griechischen Sage?«
Nathaniel räusperte sich. »Kelaeno war eine Harpye, die Aeneas verfluchte, den Anführer der Dardaner, der in der Schlacht um Troja gekämpft hatte. Sie prophezeite ihm, er würde am Ende seiner Reise so hungrig sein, dass er seine eigenen Tische verspeisen würde, wozu es der Sage nach auch tatsächlich gekommen ist.«
»Dann ist die Drohung eher eine Prophezeiung«, sagte ich. Kelaenos Worte lasteten schwer auf meinem Herzen. Die Vorstellung, Will, meine Freunde und meine Familie zu verlieren, war unerträglich. Ich durfte nicht zulassen, dass jemand zu Schaden kam. Niemand sollte für mich sterben müssen.
»Es könnte sich sehr wohl um die Harpye Kelaeno aus der griechischen Mythologie handeln«, sagte Nathaniel und rieb sich müde die Nasenwurzel. »Von Anbeginn der Zeiten an haben Menschen die Existenz von Reapern geleugnet und sich ihre eigenen Erklärungen für das, was sie gesehen haben, zusammengereimt. Die Wolfartigen wurden natürlich immer für Wölfe gehalten. Die Menschen sind Vir-Reapern begegnet und hielten sie für Dämonen oder Hexen, manchmal wurden sie so panisch, dass sie ihre Nachbarn angriffen und Freunde und Verwandte auf Scheiterhaufen verbrannten. Aller Wahrscheinlichkeit nach haben die Griechen die Harpyen erfunden, um sich ihre Begegnungen mit vogelartigen Vir-Reapern zu erklären.«
Das klang einleuchtend. Kelaeno hatte wirklich verstörend vogelartig ausgesehen. Es grauste mich immer noch, wenn ich daran dachte, wie ihr Gesicht sich ständig verändert hatte. »Sie hat noch etwas anderes gesagt. Sie nannte mich ›ein Geschenk für die Dämonenkönigin‹. Das kommt mir irgendwie bekannt vor …«
Nathaniels Gesichtsausdruck ließ mich mitten im Satz verstummen. Beim Anblick der verschreckten Furcht in seinen Augen fing mein Herz an zu rasen. »Was hat das zu bedeuten?«, fragte ich mit bebender Stimme.
Nathaniel beugte sich über den Tisch und sprach ganz langsam. »Bist du sicher, dass Kelaeno genau diese Worte benutzt hat?«
»Ja. Was ist denn los? Was hat sie damit gemeint?«
»Lilith«, sagte Will. »Die gefallene Königin der Hölle und Mutter aller dämonischen Reaper.«
Das Blut wich aus meinem Gesicht. »Oh. Ist das alles?« Ich lachte gepresst.
»Dann hat Bastian es also auch auf Lilith abgesehen«, sprach Ava ihre Gedanken laut aus. »Der meint das wirklich ernst mit dem zweiten Krieg.«
»Meinst du wirklich, sie versuchen, Lilith herbeizurufen?«, fragte Will.
Ava schüttelte den Kopf. »Schlimmer noch. Wenn Bastian die Preliatin und Lilith will, wird der Zauber viel mächtiger sein als ein Heraufbeschwörungsritual. Die Preliatin ist ein Erzengel in menschlicher Gestalt. Ihr Blut würde eine unvorstellbare Macht haben. So wie es aussieht, wollen sie Liliths leiblichen Körper wiederherstellen. Sie wollen sie in diese Welt holen, und nicht nur zu Besuch.«
»Das Ritual müsste aller Wahrscheinlichkeit nach im Grimoire verzeichnet sein«, meinte Nathaniel. »Ich glaube, in meiner Sammlung befindet sich eine fast komplette Abschrift, die ich seinerzeit selbst angefertigt habe, bevor das Grimoire vor Jahrhunderten verloren gegangen ist.«
Das Wort klang vertraut und weckte Erinnerungen bei mir. »Ich erinnere mich daran. Es ist ein Buch, das von einem Grigori geschrieben wurde, nicht wahr? In dem steht, dass die gefallenen Engel an die Erde gebunden sind und nicht an die Hölle?«
Nathaniel nickte. »Das Buch ist die älteste und umfassendste Sammlung von Engelszaubern und -ritualen.«
»Bastian würde es unbedingt brauchen, um Lilith zu befreien«, sagte Will finster. »Nur die Magie der Grigori hat die Macht, die nötig ist, um einem Engel oder einem der Gefallenen seine physische Gestalt zurückzugeben. Sonst können sie nur als geisterhafte Phantome in der sterblichen Welt umherstreifen.«
»Was würde denn dann passieren?«, fragte ich mit wachsender Panik. »Wenn Lilith befreit wird und ihre ursprüngliche Gestalt zurückbekommt? Wie könnte ich
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