Auf Den Schwingen Des Boesen
so, als hätte es meinen Vater niemals gegeben. Niemand wollte an ihn denken, dennoch spukte er natürlich in all unseren Köpfen.
Während der ganzen Beerdigung spürte ich Wills Nähe, versteckt im Limbus, doch er ließ sich nur einmal ganz kurz sehen, ohne dass ich gezwungen war, ihm in diese Höllendimension zu folgen. Ich sprach kein einziges Wort mit ihm.
Ich sollte bei Nana wohnen, bis ich im Herbst aufs College ging, aber ich war noch nicht bereit für den Umzug. Ich brauchte Kate. Ich sehnte mich danach, mich wie ein Teenager zu fühlen. Ich sehnte mich danach, den Reapern zu entfliehen.
In der Nacht nach der Beerdigung lag ich zusammengerollt in Kates Bett. Ich hatte nicht mehr geweint seit dem Abend, an dem meine Mutter gestorben war, und ich wollte nicht wieder damit anfangen. Es tat zu weh. Kates Mom zwang mich, zu Abend zu essen, und kochte sogar Kakao, den ich nur trank, weil sie so beharrlich war. Jetzt war mir übel, und immer wenn ich die Augen schloss und versuchte einzuschlafen, trafen mich die grauenhaften Erinnerungen wie ein Keulenschlag.
Kate kuschelte sich an meinen Rücken und drückte mich an sich. Ich wusste, dass sie es gut meinte, deshalb mochte ich sie nicht bestrafen, weil sie nett zu mir war. Dank Will und Nathaniel dachte sie, genau wie alle anderen, mein Dad hätte meine Mom umgebracht.
»Sie werden ihn finden«, flüsterte Kate.
Ich schwieg. Ich hätte ihr unmöglich die Wahrheit sagen können, und ich war mir nicht einmal sicher, ob ich es gewollt hätte, wenn es möglich gewesen wäre. Warum sollte ich sie in diese grauenerregende Welt hineinziehen? Eine solche Strafe hatte sie nicht verdient. Was jedoch die Frage aufwarf, warum ich sie verdiente.
Nana quartierte mich im Gästezimmer ein, einem Raum, in dem es zu viel Weiß und Marineblau und Möbel aus Ahornholz gab. Es war das Kinderzimmer meiner Mutter gewesen, doch ihr Geruch und ihre Aura waren längst verflogen. Nana war schon zu unserem Haus gefahren und hatte bestimmte Sachen eingepackt, die meine Mom aufbewahrt hatte – Dinge, die ihr, Nana und mir etwas bedeuteten. Noch waren sie alle in den Kartons in der Ecke meines Zimmers, und bislang hatte ich sie nur angestarrt, ohne sie zu öffnen. Meine Anziehsachen befanden sich noch im Koffer oder in den Kleiderstapeln daneben. Die Bügel im Schrank waren noch frei. Wenn ich alles auspackte und hier einzog, würde ich akzeptieren, dass mein altes Leben, mein altes Zuhause – einfach alles – für immer verloren war.
Die Rückkehr in unser Haus und der Anblick des Ortes, wo all das Schreckliche geschehen war, brachen mir das Herz. Will hatte alle Spuren des Reapers beseitigt, so wie er es mit Nathaniel besprochen hatte. Da war kein dunkler Fleck an der Stelle, wo ich den Reaper in Stücke gerissen hatte, kein getrocknetes Blut an den Wänden, keine Krallenspuren – nichts. Es war, als wäre ein Tornado durch den Eingangsbereich gefegt und niemand wäre gestorben. Ich wusste nicht, wie Will das geschafft hatte, aber ich hatte den Verdacht, dass Nathaniels Buch keine Tipps für den Frühjahrsputz enthalten hatte. Die Polizei hatte mich gnadenlos über die widersprüchlichen Schäden ausgequetscht, doch ich konnte ihnen nicht weiterhelfen, und sie gaben auf.
Ein leises Klopfen an der Tür riss mich aus meinen Gedanken. Nana erschien, das weiße Haar im Nacken zusammengebunden, und ihre Augen – die denen meiner Mutter so sehr ähnelten und meinen überhaupt nicht – blickten mich sanft über ihre Lesebrille hinweg an. »Hallo, mein Schatz. Komm runter zum Essen.«
Ich zwang mich zu einem entschuldigenden Lächeln. »Ich habe keinen Hunger.«
Sie musterte mich kritisch und stemmte die Hände in die Hüften. »Das war keine freundliche Bitte. In zwei Minuten bist du unten, verstanden?«
Nanas gigantischer grauer Kater, Bluebelle, kam durch die Tür geschlendert und rieb seinen dicken Bauch an meinem Bein. Die meisten Tiere schienen mich zu mögen, aber Bluebelle konnte in einem Augenblick schnurren und im nächsten sein hässliches, eingedrücktes Gesicht verziehen und wütend fauchen. Ich griff nach unten, um ihn zu streicheln, doch er schlug mit den Krallen nach mir und versuchte, mir in die Finger zu beißen. Bluebelle war ein richtiger Mistkerl.
»Bluebelle«, rief Nana. »Komm schon, du alter Griesgram. In zwei Minuten, Ellie.« Damit war sie verschwunden. Sie war meiner Mutter so ähnlich, wie ich es niemals sein würde, da ich mit beiden gar nicht richtig
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