Auf Den Schwingen Des Boesen
verwandt war. Als ich in den Spiegel schaute, sah ich nichts von meiner Mutter.
Mein Blick fiel auf einen der Kartons mit Sachen aus meinem Zimmer. Ich rappelte mich vom Bett hoch, öffnete den Karton und holte ein gerahmtes Foto heraus, das mich, meine Mom und meinen Dad in unserem letzten gemeinsamen Urlaub zeigte.
Nana hatte Nudeln gekocht und versprach, dass mir die vielen Kohlehydrate Energie für den nächsten Tag geben würden, wenn ich zum ersten Mal wieder zur Schule gehen sollte. Ich hatte keine Lust auf ein Gespräch, aber sie blieb hartnäckig.
»Soll ich dich morgen zur Schule bringen?«, fragte sie. »Es ist ganz schön weit, ich fahre dich gern.« Ich stocherte in den Porreescheiben und Artischocken herum, die sie unter die Nudeln gemischt hatte. »Nicht nötig. Ich komm schon klar.«
Sie runzelte die Stirn. »Du kannst meine Hilfe ruhig annehmen. Ich hab dich lieb.«
»Ich weiß, Nana. Und ich bin dir auch dankbar für alles, was du für mich getan hast. Aber ich möchte, dass alles so normal wie möglich ist. Ich will allein zur Schule fahren wie an einem ganz normalen Tag.«
»Das klingt sehr erwachsen«, sagte sie. »Ich bin stolz darauf, wie du mit allem fertigwirst.«
Mein Lächeln schwand dahin. Ich machte allen etwas vor. Ich war wütend, und alles war mein Fehler. Ich hätte es wissen müssen, etwas tun müssen, hätte meine Eltern beschützen müssen. Will hatte Recht, ich verschloss die Augen vor der Wahrheit. Aus lauter Trotz hatte ich mich nicht von den Menschen ferngehalten, die ich liebte, um sie zu beschützen. Und ich hatte einfach dagestanden und zugesehen, wie dieses Ungeheuer meine Mutter umbrachte. Es war alles meine Schuld.
ZWANZIG
I ch hatte die Blicke erwartet. Das Geflüster. Die Kälte. Meine Mitschüler und Lehrer wussten genauso wenig, wie sie mit der Situation umgehen sollten, wie ich. Langsam schlich ich durch den Flur, den Blick nach vorn gerichtet – niemals würde ich wie ein Feigling den Kopf senken und die Bücher an die Brust pressen. Ich wusste, was die anderen sahen, wenn sie mich anstarrten, weil ich unglücklicherweise an einem Spiegel vorbeigegangen war und hineingeschaut hatte. Alle sahen die dunklen Augenringe, die kein Concealer verdecken konnte, das glanzlose, strähnige Haar und dass ich dünner geworden war, weil ich kaum gegessen hatte.
In der Englischstunde blickte ich auf die leere Seite meines Notizblocks, während meine Mitschüler fleißig mitschrieben. Ich konnte mich nicht konzentrieren, denn nachdem die Amnesie meinen Geist nicht länger blockierte, wurde er von unzähligen Erinnerungen überschwemmt. Wir sollten einen kurzen Aufsatz darüber schreiben, wo wir uns selbst in fünf Jahren sahen. Sicher schrieben alle, dass sie nach dem College ins Berufsleben starten, vielleicht heiraten und schon eine Familie gründen würden. Was mich anging, konnte ich mir nichts anderes vorstellen, als in fünf Jahren tot zu sein. Vielleicht schon in fünf Monaten. Oder in fünf Tagen.
Nach Schulschluss ging ich zu Kates Schließfach, um Tschüss zu sagen.
»Warum kommst du nicht ein bisschen mit zu mir?«, schlug sie mit besorgter Miene vor. »Wir könnten doch so tun, als würden wir für den Psychologietest lernen.«
Seufzend lehnte ich mich gegen die Schließfächer. »Vielleicht morgen. Ich bin etwas müde, und Nana erwartet mich zum Essen.«
Sie lächelte zurückhaltend, und ich war dankbar, dass sie nicht versuchte, mich zu überreden. »Wie wär’s mit einer Runde Bowling morgen nach der Schule?«
»Gute Idee.« Ich musste mich zwingen rauszugehen. Es war nicht gut, wenn ich nur zur Schule ging und bei Nana herumhing.
»Heißt das, du kommst mit?«, fragte sie und zog hoffnungsvoll die Brauen hoch.
»Ja.«
Sie wickelte sich eine meiner Haarlocken um den Finger. »Du würdest es mir doch sagen, wenn’s dir nicht gut geht, oder?«
Ich biss mir auf die Lippe. »Mir geht’s so gut, wie’s halt gehen kann. Wird Zeit, dass ich mein Leben wieder auf die Reihe kriege, verstehst du?«
»Klar.« In ihren eisblauen Augen spiegelte sich Besorgnis.
Ich rückte meinen Rucksack zurecht. »Bis morgen früh also?«
Sie lächelte. »Ja, sicher. Du weißt, ich bin immer für dich da. Wir haben jede Menge Zeit zum Reden.«
Mein Herz füllte sich mit Traurigkeit. Hätte ich ihr doch nur die Wahrheit sagen können. Ich hätte so gern mit ihr gesprochen, ihr alles gesagt, denn ich hatte das dringende Bedürfnis, mit jemandem zu reden, mit Kate zu
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