Auf der anderen Seite ist das Gras viel gruener - Roman
Moment. Der unser Leben für immer verändern würde.
Aber die Geigen verpatzten ihren Einsatz.
Mathias’ Blick streifte mich zwar, doch nur für den Bruchteil einer Sekunde. Und ungefähr so, wie man eine Säule anschaut, an der man vorbeigeht. Denn das tat er: einfach vorbeigehen, ohne das Tempo zu drosseln. Als ob er mich gar nicht wahrgenommen hätte. Komplett übersehen.
Ich und das Schicksal starrten ihm hinterher, wie er um die Ecke verschwand, und konnten es nicht fassen. Wobei das Schicksal natürlich nicht starrte – das konnte es ja gar nicht.
Es grinste stattdessen boshaft und tippte sich an den Hut, bevor es ebenfalls um die Ecke verschwand. Biest, elendiges.
Die Liebe ist so unproblematisch wie ein Fahrzeug. Problematisch sind nur die Lenker, die Fahrgäste und die Straße.
Franz Kafka
Okay. Kein Grund zur Panik.
Es war eben einfach nicht der richtige Zeitpunkt gewesen. Mathias war schließlich gar nicht der Typ für dieses Liebe-auf-den-ersten-Blick-Ding. Ich ja auch nicht. Das war mehr Lindas Fachgebiet. Und das von Felix. Und Hollywood.
Aber was, wenn Mathias und ich vom Schicksal gar nicht dazu bestimmt waren zusammenzukommen? Oder wenn es eben unser Schicksal war, uns erst im Jahr 2011 zu finden, ungefähr eine Minute bevor ich von einer U-Bahn überfahren wurde? Was, wenn uns im Leben nur dieser eine wunderbare Kuss vergönnt war? Das Schicksal war doch bekannt für derartige Spielchen …
Ich griff zu meinem Handy, um Eva zu fragen, ob sie an Schicksal glaube und daran, dass das Schicksal für alles nur einen einzigen richtigen Zeitpunkt vorgesehen habe, als mir schlagartig klar wurde, dass ich mit der Eva aus dem Jahr 2011 sprechen wollte und nicht mit der, die nächsten Monat erst heiraten würde.
Plötzlich fühlte ich mich entsetzlich einsam.
Auf dem Weg von der Uni nach Hause kaufte ich zwei Flaschen Rotwein anstelle von Abendessen. Alle Menschen, die ich liebte, waren fünf Jahre weit weg von hier, ich war ganz allein, gestrandet im Jahr 2006 … Und Mathias hatte mich einfach übersehen.
Das hier war nicht nur alles gar nicht echt, es war auch noch sinnlos. Und im Jahr 2011 lag ich zu allem Überfluss tot unter einer U-Bahn. Super Aussichten!
Erst als ich in meiner Wohnung angekommen war und ein Glas Rotwein getrunken hatte, ließ das Selbstmitleid ein wenig nach. Ich zog meine schönen neuen Stiefel aus und kuschelte mich aufs Sofa unter die Mohairdecke, die meine Mutter mir gehäkelt hatte (und die Felix irgendwann im Jahr 2009 so heiß gewaschen hatte, dass sie auf die Größe eines Topflappens zusammengeschrumpft war). Die Heizung gluckerte friedlich vor sich hin, der Rotwein begann seine Wirkung zu entfalten, und ich versuchte, positiv zu denken. Denn – so erklärte ich es jedenfalls den Leuten in meinen Seminaren immer – nur aus positiven Gedanken können kreative Lösungen geboren werden. Also gut, das war vielleicht ein klitzekleiner Rückschlag gewesen, vorhin, und ja, ich hatte Heimweh nach 2011, aber das hier war doch allemal besser, als tot zu sein. Und so schlimm war der Tag auch gar nicht gewesen: Ich hatte genau den Trenchcoat gefunden, den ich schon immer hatte haben wollen. Ich hatte Gabi die Stirn geboten und war einem Streit mit dem Reißwolf aus dem Weg gegangen. Ich hatte … wirklich, wirklich leckeren Rotwein. Vor allem das dritte Glas schmeckte vorzüglich. Allerdings erschwerte es auch ein wenig das Denken. Wo war ich gleich stehen geblieben? Ah ja. Bei all den positiven Dingen, die ich hatte. Zum Beispiel eine Taille. Und eine richtig tolle To-do-Liste zum Abhaken.
Okay, 1.1, der magische Moment, war für heute ausgeblieben, aber immerhin hatte ich Mathias überhaupt gefunden, und zwar hier in Köln, ganz in meiner Nähe. Nein, so schnell würde ich nicht aufgeben.
Die Menschen hier waren vielleicht noch nicht die, die sie in fünf Jahren sein würden, aber ich liebte sie schließlich trotzdem. Außerdem brauchten sie mich. Jawohl. Morgen würde ich als Erstes bei Evas Furcht einflößender zukünftiger Schwiegermutter anrufen und sie bitten, mir einen Teil der Hochzeitsplanung zu überlassen. Sie würde sich bestimmt heftig dagegen sträuben, aber ich würde gnadenlos sein. Ich war – und an dieser Stelle begannen meine Gedanken ein wenig zu lallen –, ich war schließlich nicht umsonst mit unschätzbarem Wissen aus der Zukunft gekommen. Ich war, äh, Future Woman . Und ich würde alle meine Lieben beschützen. Vielleicht sollte
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