Auf der anderen Seite ist das Gras viel gruener - Roman
völligen Selbstaufgabe«, sagte ich. »Du wärst ganz bestimmt eine tolle Geschäftsführerin. Ich wäre sehr froh, dich als Chefin zu haben.«
Marlene lächelte. »Lieb, dass du das sagst. Mein Vater meint auch, ich solle die Gelegenheit beim Schopf packen. Ihm gefällt die Vorstellung, dass seine Tochter eine eigene Firma besitzt. Ehrlich, zum ersten Mal in meinem Leben habe ich das Gefühl, er ist wirklich stolz auf mich. Es ist noch nie vorgekommen, dass er mir Geld angeboten hat – schon gar nicht in diesen schwindelnden Höhen.«
Ich musste ein Zähneknirschen unterdrücken. Marlenes Vater war ein widerlicher alter Despot, und Marlene hatte ihr Leben lang um seine Anerkennung gerungen. Seit dem Brief, den sie Weihnachten 2006 von ihm erhalten hatte (beziehungsweise noch erhalten würde, von hier aus betrachtet), bestand keinerlei Kontakt mehr zu ihrem Vater, und ich konnte das gut verstehen, denn ich hatte den Brief gelesen. Solange seine Tochter mit Javier oder vielmehr »diesem drogensüchtigen Asylanten und ausländischen Heiratsschwindler« zusammen sei, dürfe sie keinen Fuß über die Schwelle ihres Elternhauses setzen, hatte dort gestanden, und von dem Erbe würde sie noch nicht einmal einen Cent des Pflichtteils sehen, dafür würde er persönlich sorgen.
»Die Entscheidungen selbst zu treffen, das würde mich auch reizen.« Marlene schaute träumerisch aus dem Fenster.
»Andererseits – du Seite an Seite mit der Blutgrä…«, ich räusperte mich, »ähem, mit Gabi, das stelle ich mir auch nicht gerade einfach vor.«
Ich war schon mittendrin in meinen Überlegungen. Oh ja, Future Woman würde sich dieser Sache annehmen müssen, auf jeden Fall. Und ich hatte sogar schon eine Idee. Eine ziemlich gewagte …
Marlene seufzte wieder. »Ja, da hast du recht. Und Frau Zähler-Reißdorf wäre bestimmt auch nicht gerade kooperativ.«
… Idee, aber das hier war ein Paralleluniversum, oder etwa nicht? Da konnte man ruhig mal riskieren, was man sich im wirklichen Leben nicht trauen würde. Während ich mir eifrig Notizen machte, sagte ich gedankenverloren: »Was Frau Zähler-Reißdorf betrifft – ich habe das Gefühl, dass ihre Tage in der Agentur gezählt sind.« Weil sie nämlich im Herbst mit Herrn Reißdorf nach Stuttgart umziehen und komplett in Vergessenheit geraten würde.
Manchmal muss man einfach ein Risiko eingehen – und seine Fehler unterwegs korrigieren.
Lee Lacocca
»Was kritzelst du denn da schon wieder?«, erkundigte sich Marlene.
Schnell faltete ich das Blatt zusammen. »Ach, nur eine To-do-Liste.« Ich lächelte sie an. »Es gibt ja so viel zu tun!«
Der Mensch hat dreierlei Wege, klug zu handeln: erstens durch Nachdenken; zweitens durch Nachahmen, das ist der leichteste; und drittens durch Erfahrung, das ist der bitterste.
Konfuzius
Die Auswahl an Bioprodukten ließ im Jahr 2006 zwar noch zu wünschen übrig, aber es gab Biohühnchen und genügend knackigen Lauch und Champignons für mein Jamie-Oliver-Gericht, von dem ich nicht wusste, ob er es zum jetzigen Zeitpunkt überhaupt schon erfunden hatte. Was aber auch keine Rolle spielte, denn ich kannte das Rezept auswendig. (Falls es Ihnen bekannt vorkommt, ich habe es auf Seite53 schon mal gekocht.)
Make something STRANGE every day.
Wenn man »Leben noch einmal leben« in eine Suchmaschine eingibt, bekommt man erstaunlich viele Treffer, auch schon im Jahr 2006. Viele (meistens natürlich ältere oder im Sterben begriffene) Menschen hatten sich darüber schon Gedanken gemacht und weise Worte für die Nachwelt hinterlassen. Der Konsens war immer derselbe: Würde man sein Leben noch einmal leben dürfen, dann mit mehr Spaß und Liebe und weniger Angst davor, Fehler zu machen. Mehr Sonnenuntergänge und Kuscheln, weniger Hausputz und Diäten. Mehr »Wenn nicht jetzt, wann dann«, weniger »Räum deine Socken weg«, mehr »Ich liebe dich«, weniger Baucheinziehen, mehr »die Feste feiern, wie sie fallen« – das leuchtete mir alles ein! Weshalb ich für dieses Wochenende auch spontan Linda, Marlene, Amelie und Javier zum Abendessen eingeladen hatte. (Ich hätte auch noch mehr Leute eingeladen, aber tatsächlich war mein Freundeskreis zu dieser Zeit in Köln eher beschränkt.) Und weil das Leben zu schade für langweilige Abendessen war, würden wir auch zusammen Ostereier färben und »Nobody is perfect« spielen, hatte ich beschlossen. (Dafür hatte ich es nicht so mit Sonnenuntergängen.)
Im Spiegel über der
Weitere Kostenlose Bücher