Auf der anderen Seite ist das Gras viel gruener - Roman
Tucholsky
Wir – ganz besonders das arme Robbemännlein – hatten Frau Luchsenbichler nur schreckgelähmt angestarrt, unfähig, etwas zu tun. Zwar behauptete mein Vater später immer, er habe den Pfirsich, den er nach Frau Luchsenbichler werfen wollte, bereits in der Hand gehalten, aber beweisen konnte er das nicht, weil Frau Luchsenbichlers Gesang nicht durch einen Pfirsich unterbrochen wurde, sondern durch Roberts Onkel Anton, der drohte, an einer Gräte zu ersticken. Was nur im ersten Moment wie eine glückliche Fügung erschien.
»Ich kann Frau Luchsenbichler unmöglich wieder ausladen«, sagte Friedlinde, von meinem Schweigen offensichtlich verunsichert und nun fast ein bisschen weinerlich.
»Das verstehe ich doch«, sagte ich begütigend. »Wichtig ist erst mal, dass Sie der Band und der Catering-Firma absagen und die Tauben abbestellen. Und wegen der Sitzordnung melde ich mich dann noch einmal bei Ihnen. Ach ja, und der Einfachheit halber werde ich für Ihren Mann eine Liste mit allen Themen aufstellen, die er in seiner Rede lieber meiden sollte.«
»Sie wollen Heriberts Rede … zensieren?«
»Nur zur Sicherheit. Damit er nicht aus Versehen etwas sagt, das ihm hinterher leidtut. Wir wollen doch beide, dass diese Hochzeit uns allen in guter Erinnerung bleiben wird, nicht wahr?«
Friedlinde war von dem neuen Wir-Gefühl völlig überrumpelt. »Ja, natürlich«, sagte sie, und ich legte zufrieden auf. Das wäre erledigt. Und für Frau Luchsenbichler würde mir schon auch noch etwas einfallen, kein Problem.
Marlene hatte sich in der Zwischenzeit offenbar für die Offensivtaktik entschieden. Sie musterte mich aus zusammengekniffenen Augen. »Du bist irgendwie verändert, seit du aus dem Krankenhaus zurück bist!«
Ups. »Vielleicht ein wenig zielstrebiger«, gab ich zu. »Im Krankenhaus habe ich gelernt, dass man im Leben einfach keine Zeit zum Verschwenden hat.«
»Ja, da ist bestimmt was dran«, sagte Marlene, und dann passierte etwas Erstaunliches. Sie stellte den bohrenden Blick ein und seufzte. »Wie viel Zeit allein dafür draufgeht, Entscheidungen zu treffen und zu grübeln … Ich weiß immer noch nicht, ob ich Gabis Angebot annehmen soll.«
»Welches An…?«, begann ich, aber dann fiel es mir wieder ein. Gabi hatte Marlene im Jahr 2006 tatsächlich das Angebot gemacht, als Partnerin in die Agentur einzusteigen. Was nicht etwa daran lag, dass Gabi in einem Moment unendlicher und für sie völlig untypischer Weisheit erkannt hätte, dass Marlene einen großen Teil der neuen Klienten akquirierte und bundesweit eine der gefragtesten Coachs für weibliche Führungskräfte war (na ja, bald werden würde). Weit gefehlt! Sie hatte einfach nur mitbekommen, dass Marlene ein ziemlich attraktives Jobangebot von der Konkurrenz bekommen hatte, und anstatt sie mit einer saftigen Gehaltserhöhung an die Firma zu binden, hatte sie sich ausgerechnet, dass sie billiger wegkäme, wenn Marlene mit in die Agentur einstieg.
Marlenes Vater hatte die Idee unterstützt und Marlene eine großzügige Summe als Voraberbe angeboten, um eine GmbH zu gründen. Allerdings hatte er – noch in diesem Jahr und pünktlich zu Weihnachten – das Angebot wieder zurückgezogen, als Marlene sich weigerte, ihre Beziehung zu Javier zu beenden.
Am Ende stand Marlene – beruflich gesehen jedenfalls – ohne alles da: ohne die Partnerschaft in der Agentur, denn das Risiko, einen Kredit aufzunehmen, war ihr zu groß erschienen. Und ohne den Job bei der Konkurrenz, denn der war in der Zwischenzeit längst besetzt. Geblieben war ihr lediglich die feixende Gabi, die den Großteil des Gewinns weiterhin in die eigene Tasche steckte.
»Ja, es ist immer schwer, die Vor- und Nachteile gegeneinander abzuwägen«, sagte ich vorsichtig, und Future Woman witterte einen neuen Punkt für ihre To-do-Liste.
»Im Prinzip ist es genau das, was ich tun möchte«, sagte Marlene. »Andererseits … Ich wette, wenn wir Partner sind, verlangt Gabi von mir, dass ich wie sie Tag und Nacht arbeite. Und ich glaube nicht, dass sie versteht, dass ich das wegen Amelie gar nicht kann …«
Ja, genau das schmierte Gabi Marlene auch 2011 noch ständig aufs Butterbrot. Dass sie als alleinerziehende Mutter ja auch gar nicht in der Lage gewesen wäre, die Aufgaben einer Geschäftsführerin zu meistern, und froh sein solle, dass sie die Partnerschaft abgelehnt hatte.
»Es gibt sicher mehr als eine Möglichkeit, eine Agentur zu führen, als die der
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