Auf der anderen Seite ist das Gras viel gruener - Roman
zusammenzupuzzeln.
Eigentlich hatte ich schon in der Mittagspause herkommen wollen, aber Gabi hatte mich zungenschnalzend abgefangen, um einen Bericht von mir in Grund und Boden zu stampfen, deswegen war ich gezwungen gewesen, mein Nachmittagsseminar unauffällig eine halbe Stunde früher zu beenden, um noch vor Felix an diesem verdammten Briefkasten zu sein. Wenigstens konnte ich so sicher sein, dass die Post schon da gewesen war.
Ich nahm die beiden Gabeln aus der Handtasche, die ich extra zu diesem Zweck aus der Büroküche hatte mitgehen lassen. Aber die verdammten Briefkästen hingen so hoch, dass ich keine Chance hatte, nach dem Umschlag zu angeln. Ich sah mich um und fand einen Putzeimer in der Ecke, der vermutlich Hausmeister Fischbach gehörte. Umgedreht und vor den Briefkasten gerückt, gab er einen prima Hocker ab. Nicht unbedingt sehr stabil, aber in diesem Paralleluniversum war ich ja ein Leichtgewicht.
Aber auch das half nur bedingt weiter. Ich glaubte zwar, den cremeweißen Zipfel des Hotelbriefpapierumschlags zu erkennen und konnte ihn auch mit der Gabel erreichen, aber es gelang mir nicht, ihn mit den Zinken zu packen und nach oben zu drücken. Stattdessen fiel die Gabel in den Briefkasten, und die zweite folgte eine halbe Minute später nach.
Verdammter Mist! Ich starrte durch den Schlitz. Doch, da war er, der Briefumschlag, ich konnte ihn deutlich sehen, sogar den Poststempel von Münster konnte ich erkennen. Wenn ich die Hand nur ein Stück weit hineinschieben würde, könnte ich ihn vielleicht packen, autsch, das war ein bisschen scharf, aber ja, es klappte, hurra! Jetzt hatte ich ihn fast und zog ihn vorsichtig nach oben, Millimeter für Millimeter …
… und hätte ihn genau in dem Augenblick in der Hand gehalten, wenn, ja wenn der Putzeimer nicht in drei Teile zerbrochen wäre (so viel zum Thema Leichtgewicht).
Was zur Folge hatte, dass ich vierzig Zentimeter tiefer in den Plastiktrümmern stand, während mein Handgelenk oben im Briefkastenschlitz feststeckte. Und zwar so richtig. Die Hand ließ sich weder vor- noch zurückbewegen. Es tat verdammt weh. Und die scharfe Kante schnitt mir vermutlich gerade die Pulsadern auf. Jedenfalls bildete ich mir ein, Blut tropfen zu fühlen.
Na toll. Das war jetzt aber wirklich … aaaaaaaaargh! Nein, ich durfte nicht schreien, damit rief ich nur die anderen Mieter auf den Plan. Und die würden sich so ihre Gedanken machen, wenn sie eine fremde Frau mit der Hand in einem der Briefkästen vorfinden würden.
Andererseits – allein wäre ich nur freigekommen, wenn ich vorsorglich eine Kettensäge eingepackt hätte.
Es fiel mir schwer, ruhig zu bleiben. Wahrscheinlich würde es nicht mehr lange dauern, bis der Erste vorbeikam, gegen halb sechs herrschte quasi Rushhour in diesem Haus. Was hieß, dass ich mich entweder sofort befreien oder mir ganz schnell eine verdammt gute Geschichte ausdenken musste.
Es gab eine Lösung, es gibt immer eine Lösung. Und ich hatte doch meine Handtasche umhängen, und darin war … lauter nutzloses Zeug … und … mein Handy!
Mit der freien linken Hand fischte ich es heraus und wählte die erste Nummer, die mir einfiel, Marlene. Aber Marlene war im Seminar, und es ging nur ihre Mailbox dran. Auf die ich trotzdem sprach, wobei mir das Wort Psychiatrie in den Kopf schoss, bevor ich hysterisch kichernd auflegte. (Ich hatte von einem Briefkasten erzählt, der mich festhielt, und um einen guten Anwalt gebeten.)
Die Nächste war Linda, die allerdings nicht mehr im Büro war. Als ich sie auf dem Handy erreichte, saß sie bereits in der S-Bahn und war schon auf der anderen Rheinseite. Obwohl sie sofort (und geradezu unangemessen begeistert von meiner Zwangslage) anbot, an der nächsten Station auszusteigen und mir zu Hilfe zu eilen – »Ich habe immer einen Schraubenzieher dabei, vielleicht könnten wir die Klappe einfach abschrauben« –, würde es viel zu lange dauern, bis sie hier war, um mich zu retten.
»Du könntest versuchen, die Tür samt dem Schlitz herauszuhebeln«, schlug sie eifrig vor. »Dann könntest du dir den Brief schnappen und mit der Tür abhauen. Hast du ein Taschenmesser dabei?«
»Nein!«, sagte ich und wollte es stattdessen mit einem Kugelschreiber versuchen, auch wenn Linda skeptisch war, dass mir das damit gelingen würde. Meine Hand war mittlerweile vermutlich auf die doppelte Größe angeschwollen, zumindest fühlte sie sich so an. Aber der Kugelschreiber kam gar nicht mehr zum
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