Auf der anderen Seite ist das Gras viel gruener - Roman
verlassen!«
Es dauerte eine Weile, bis ich herausgefunden hatte, worum es ging, und dafür musste Frau Baronski zwischendurch den Hörer an eine der Pflegerinnen weitergeben. Offenbar hatte sie sich einen Grippevirus eingefangen, und der Arzt hatte sie gestern abgehorcht, eine beginnende Lungenentzündung nicht ausgeschlossen und eine Einweisung ins Krankenhaus empfohlen, falls sich die Symptome verschlimmerten. Aber Frau Baronski wollte da auf keinen Fall hin. Sie war überzeugt, an einer Lungenentzündung sterben zu müssen, und sterben wollte sie nun mal nicht im Krankenhaus, »… angeschlossen an all diese Apparate, Kindchen!«, sondern in ihrem geliebten Sessel, ganz gleich, wie sehr die Pfleger auch auf sie einredeten.
In der Zwischenzeit war Felix wieder zurückgekehrt. (Auf der Treppe hatte ich ihn zu den Nachbarn sagen hören: »Ja, das ist so abgesprochen.«) Dass ich schon wieder telefonierte, nahm er mit einem Kopfschütteln zur Kenntnis.
Frau Baronski weinte. Es war klar, dass es nicht mehr lange dauern würde, dann würden sie kurzen Prozess mit ihr machen. Irgendjemand würde ihr eine Beruhigungsspritze in den Arm rammen, und wenn sie erwachte, fand sie sich im Krankenhaus wieder …
»Hören Sie«, sagte ich zu der Pflegerin, die ihr das Telefon aus der Hand nahm. »Bitte lassen Sie sie doch einfach noch eine Weile in ihrem Sessel sitzen. Ich komme, so schnell ich kann, und dann können wir zusammen überlegen, was wir machen.«
Felix öffnete, wie erhofft, die Briefkastentür und begann, mein Handgelenk von beiden Seiten mit etwas einzureiben, das ich auf den zweiten Blick als Margarine identifizierte. Ganz schön schlau.
»Es ist schon Abend, da kann ich den Doktor nicht noch mal rufen«, sagte die Pflegerin. »Sie wissen ja, wie Ärzte sind. Und er hat gesagt, wenn der Husten schlimmer ist, soll ich sie ins Krankenhaus bringen. Der Zivi steht schon hier, aber …«
»Bitte … warten Sie noch ein bisschen. Ich beeile mich … Ich kann … Autsch!« Felix hatte einen Schuhlöffel aus Plastik gezückt und ihn zwischen den Schlitz und mein gefettetes Handgelenk geschoben. Mit einem satten Geräusch glitt die Hand aus ihrem Gefängnis. Erleichtert atmete ich auf, zuckte aber zusammen, als Felix nach meinem arg mitgenommenen Handgelenk griff und es abtastete.
»Das darf ich nicht«, sagte die Pflegerin. »Sie sind ja nicht mal mit Frau Baronski verwandt.«
»Ich weiß.« Das Schluchzen von Frau Baronski im Hintergrund brach mir beinahe das Herz. »Aber was wäre, wenn ich mit einem Arzt käme, einem Internisten, der sie sofort vor Ort untersuchen und eine Entscheidung fällen könnte?«
Felix ließ meine Hand los. Offenbar war nichts gebrochen.
»Das wäre natürlich etwas anderes«, sagte die Pflegerin.
»Wir sind gleich da! Bitte sagen Sie ihr das!« Ich drückte den Ausknopf und sah Felix flehend an. »Das ist ein … medizinischer Notfall. Wo hast du dein Auto geparkt? Wir müssen ins Altersheim Luisenstift, kennst du das?«
Wieder zog Felix skeptisch seine Augenbrauen zusammen. »Ich soll mit Ihnen …?«
»Bitte«, fiel ich ihm ins Wort und merkte, dass ich ebenfalls kurz davor war, in Tränen auszubrechen. »Sie ist doch so allein, sie hat nur mich, und sie will nun mal in diesem Sessel sterben und nirgendwo anders …«
»Schon gut«, sagte Felix und hielt seinen Schlüsselbund in die Höhe. »Das Auto steht gleich hier um die Ecke.«
Auch aus den Steinen, die in den Weg gelegt werden, kann man Schönes bauen.
Johann Wolfgang von Goethe
»Wirklich?« Guter, bester, alter Felix. Nicht mal einer nachweislich Irren konnte er etwas abschlagen. »Danke!«, sagte ich gerührt. Vor lauter Erleichterung hätte ich den Brief beinahe vergessen. Felix folgte meinem Blick und kam mir eine Zehntelsekunde zuvor: Er schnappte sich den cremefarbenen Briefumschlag als Erster.
»Ach … Gib ihn mir doch einfach«, sagte ich.
»Keine Chance. Er ist mit der Post gekommen und an mich adressiert«, sagte Felix. »Und jetzt lassen Sie uns ins Luisenstift fahren, bevor ich es mir wieder anders überlege.«
Alles, was ich zu meiner Verteidigung habe, sind die Fehler, die ich gemacht habe.
Charles Bukowski
Felix war der gutgläubigste und hilfsbereiteste Mensch, den ich kannte. Aber dass er eine Stalkerin mit merkwürdigem Dialekt und der Neigung, in fremde Briefkästen einzubrechen, in sein Auto ließ, das bereitete mir nun ernsthaft Sorgen.
Wie leicht hätte ich eine ehemalige
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