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Auf der Flucht

Auf der Flucht

Titel: Auf der Flucht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hellmuth Karasek
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wiederkommen würde.
    Ich wusste nicht, wie es hier früher gewesen war, aber ich ahnte, dass es eigentlich war wie immer und dass ich zurückkommen wollte, obwohl ich noch nie hier gewesen war. Später habe ich Hölderlins Elegie »Heimkunft« nachbuchstabiert, ihre Verse waren dunkel und hellsichtig zugleich, so als ließe sich Klarheit raunen, und ich habe mir wenigstens lesend und rezitierend Heimatgefühl anzueignen versucht, Uhland und Hauff und Gustav Schwab, die Wurmlinger Kapelle (»Droben stehet die Kapelle / schauet still ins Tal hinab«), den Blautopf, den Schneider von Ulm, das Stuttgarter Hutzelmännchen und »Jedem sein Ei und dem Waiblinger zwei« und die Schlacht bei Reutlingen, bei der ein Hügel »Achalm« heißt, weil am Schlachtabend der Sieger sterbend »Ach allmächtiger Gott!« seufzen will und es nur bis zum »Achalm …« schafft.
    Was ich damals nicht wusste, aber erlebte, war: Das Leben in Deutschland hatte sich aus den großen, verwüsteten Städten aufs Land, in die Kleinstädte, in die festen Burgen der Provinz zurückgezogen. Und es hatte sich aus Norddeutschland nach Süddeutschland verlagert. Jedenfalls in meiner Sicht, in meiner Erfahrung. Der Osten verloren, Berlin, Hannover, Hamburg, das Ruhrgebiet zerschlagen und zertrümmert. Hier, in Württemberg, in der verwinkelten Regression aus Württemberg-Hohenzollern, in der sich katholische Diaspora mit protestantischem Gemeindeleben unter der Obhut der französischen Besatzungsmacht zu einem neuen Gemeinwesen aufrichtete, ohne von der Besatzungstruppe weiter gestört zu werden, hier sah es so aus, als hätte es das Nazi-Deutschland nie gegeben.
    Von gestern sprach man achselzuckend, auch wohl verächtlich von der nazistischen Großmäuligkeit, die – angeblich – hier nie eine Heimstatt gefunden hatte: Pathos schien dem Württembergischen in der Tat fremd, das wäre ja auch lächerlich erschienen, in diesem Land, in dem man die Römer noch sehen konnte in den dunklen Augen und Haaren vieler junger Mädchen (oder es jedenfalls behauptete). Und die benachbarten Franzosen (Baden war nahe und also auch das Elsaß. Oder Oberschwaben und also auch die Schweiz. Der Bodensee und also auch Österreich) hatten ihre Spuren in Sprache und Rechtsempfinden hinterlassen – Carlo Schmid, SPD-Politiker und Minister in Württemberg-Hohenzollern, war ein hoch gebildeter Weltbürger, der französisch wie deutsch schreiben und sprechen konnte –, nirgends waren die Deutschen in der Verkörperung als »Preußen« (was damals ungerechterweise mit Nazis gleichgesetzt wurde) weiter weg als hier. Auch wusste man damals noch nichts von Dr. Mengele.
    Das Haus, in das ich 1950 kam, lag breit und wuchtig zwischen einer großen und einer kleinen Ausfallstraße, ein verputzter, mir gewaltig erscheinender Fachwerkbau. In der einen Hälfte wohnte die Bierbrauerfamilie Bräuchle, in der anderen die Familien der Brüder Binder, beides Gerbermeister. Das zweistöckige Haus, dessen obere Räume sich teilweise schon unter das tief gezogene Dach duckten, war geteilt in den größeren Bräuchle-Teil mit einer Reihe von acht Fenstern mit ausgebreiteten dunkelgrünen Fensterläden und den schmaleren Binderteil mit vier Frontfenstern. Das Binderhaus war nach hinten an der schmalen Straße verwinkelt, Holzwände mit Luken schirmten die Lohgerberei ab, deren scharf ätzender, leicht fauliger Geruch nach außen drang. In gewaltigen, in den Boden eingelassenen Zementwannen mit jauchig brauner Brühe schwammen Rinderfelle von Bottich zu Bottich und wurden so immer stärker gegerbt. Die beiden Brüder Binder, beide über sechzig, betrieben ein aussterbendes Handwerk, der eine, der jüngere, schon eher ein Schreibtischmensch, immer korrekt angezogen, den großknotigen Binder um den Hals, hatte schon einen grauen Scheitel und einen grauen Schnurrbart, und seine Söhne hatten mit der Gerberei nichts mehr im Sinn. Der andere, der kleinere, ein gichtgebeugter und gekrümmter Mann mit einem weißen, kurz geschorenen Stiftekopf und einem wunderbaren Bauernmund mit kurzgemümmelten Zähnen, trug einen ledernen Gerberschurz, seine Hände waren braun gebeizt. Er stocherte mit langen Stangen in der Gerberlohe zwischen den Fellen herum, schöpfte mit Netzen Pelze aus der Brühe, war verwachsen mit seinem schweren, sehr alten Handwerk und ich erinnere mich nicht an technische Neuerungen und Maschinen, die ihm hätten helfen können.
    Nach der Arbeit humpelte er im Wohnzimmer im ersten Stock

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