Auf der Flucht
trug sogar die Nase höher als die anderen. Ich erinnere mich, wie er an heißen Tagen mit einem kleinen Leiterwagen Wasser zu einem nahe gelegenen Grundstück fuhr, das seiner Frau gehörte, er sprengte dort – und es war sein ganzer Stolz – die nur spärlich gedeihenden Tomaten und Bohnen. Später hat er auf diesem Grundstück sein kleines Einfamilienhaus gebaut, in dem heute noch sein Sohn Kurt wohnt.
Damals stand er am Abend aufrecht neben dem Klavier, an dem Tante Irmgard saß. Und während sie, mit ihren von der Arbeit aufgeweichten und schweren Fingern, die Tasten traf, räusperte er sich – er war ein starker Raucher –, und dann sang er. Lehar. Das »Land des Lächelns«. »Immer nur lächeln und immer vergnügt, immer zufrieden, wie's immer sich fügt«, sang er. Und: »Lächeln trotz Weh und tausend Schmerzen. Doch wie's da drin aussieht, geht niemand was an.« Dann machte er eine Pause, sah mich mit einem leichten Lächeln in den Augenwinkeln an und sagte: »Tiefste Weisheit des Ostens!« Er selber aber war nicht so weise und konnte fürchterlich herumschreien, vor allem, wenn sein Stiefsohn (»Oh Adam«, stöhnte die Mutter, die ihren Erstgeborenen schützte und verteidigte, so weit sie nur konnte) schlechte Noten aus der Schule brachte.
Meine Tante hatte ein Abonnement in der Stuttgarter Oper, wohin sie, ohne meinen Onkel, mit ihren Freundinnen fuhr, ich glaube im Bus. Von den Stuttgarter Sängerinnen und Sängern schwärmte sie auf das Höchste – und mir tut es leid (für sie und für mich), dass sie nicht mehr erlebte, wie ich Chefdramaturg ihrer so geliebten Sängerinnen und Sänger wurde – wir teilten ja die Liebe zu einem der größten Mozart-Tenöre jener Jahre, zu Fritz Wunderlich, den ich später Abend für Abend, so ich nur wollte, in Mozart-Aufführungen hören konnte, als Tamino und als Belmonte, schöner, strahlender, unschuldiger habe ich deren Arien nie gehört. Er hat sich dann später in einem Jagdhaus zu Tode gestürzt, ein Unfall. Aber da war meine Tante längst tot und ich auch nicht mehr Dramaturg.
Gegen Ende meines Besuchs in Metzingen führte mich mein Onkel, er hatte dazu eine bedeutsame und ernste Miene aufgesetzt, ein bisschen Stolz war auch dabei, in den Keller im Haus seines Schwiegervaters und dort zu einem Holzregal. Dort hatte er etwa zehn Sardinenbüchsen aufgestapelt, mehrere Pakete mit Zwieback (Marke Brandt), eine Dauerwurst, Dosen mit Kondensmilch, Tüten mit Mehl, mit Erbsen, Linsen und Bohnen, mit Zucker und mit Haferflocken. »Für den Fall, dass der Krieg wieder zu uns kommt«, sagte er. Der Krieg! Fünf Jahre nach Kriegsende ging in Westdeutschland die Kriegsfurcht wieder um.
In Korea, am 38. Breitengrad, kämpften Amerikaner und Australier im Namen der Uno gegen die nordkoreanischen Eindringlinge. Die Uno hatte dieses Vorgehen sanktioniert, weil die Sowjetunion das Instrument des Vetos im Weltsicherheitsrat offenbar noch nicht beherrschte. Anstatt den Kalten-Kriegs-Gegner durch das Veto zu stoppen, hatte die Sowjetunion die Sitzung des Weltsicherheitsrats aus Protest boykottiert und so die Legitimierung des amerikanischen Eingreifens durch die UN ermöglicht – ein Fehler, der der russischen Diplomatie kein zweites Mal unterlaufen sollte.
Der Koreakrieg, dessen Nachwirkungen bis heute bedrohlich zu spüren sind, brachte die Welt zum ersten Mal an den Rand eines Atomkriegs. General MacArthur, der frühere Hochkommissar und Statthalter der USA in Japan, hatte erwogen, China, das Nordkorea unterstützte, notfalls durch den Einsatz der Atombombe, mindestens durch die Androhung des Einsatzes, in seine Schranken zu weisen. Ein Spiel mit dem Feuer, denn auch die Sowjetunion war eine Atommacht. Die Truman-Administration versuchte, das Feuer sofort auszutreten, indem sie MacArthur augenblicklich abberief. Doch die verheerende moralische Wirkung war nicht mehr aufzuhalten.
In Deutschland, wo gerade die Debatte über die Einführung der Bundeswehr und die »Wiederaufrüstung« entbrannte, begann sich die Friedensbewegung zu formieren. Im Kalten Krieg wurden aus besiegten Gegnern künftige Verbündete, Schlagworte wie »Revanchisten«, »Kalte Krieger« kamen auf, die evangelische Kirche und deutsche Wissenschaftler um Carl Friedrich von Weizsäcker meldeten Opposition und Widerstand an, eine mächtige, anschwellende Protestbewegung entstand, und die kommunistische Propaganda schürte eine »Ami go home«-Stimmung. Noch heute habe ich den großen Sänger und
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