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Auf der Flucht

Auf der Flucht

Titel: Auf der Flucht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hellmuth Karasek
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erwies sich in der Tat als sooo fleißig. Und seine Frau Edith tat es ihm gleich. Sie bildeten eine Zweckgemeinschaft – so als wäre das Leben eine hochalpine Bergtour von äußerster Anstrengung und einer wäre auf den anderen, mit dem er durch ein Seil (die Ehe und Familie) verbunden ist, auf Leben und Tod angewiesen: Keiner von beiden hat je das Seil losgelassen, beide konnten sich aufeinander verlassen. Ihre Härte und Ausdauer im Lebenskampf wurde anfangs durch ihre Zärtlichkeit gemildert. Als ich ein paar Jahre später als Student in den Semesterferien bei ihnen in ihrer damals kleinen Wohnung in Sindelfingen wohnte (Kost und Logis angemessen bescheiden bezahlend, versteht sich), habe ich beobachtet, wie sie ihm jeden Morgen drei selbst gedrehte Zigaretten für sein Etui vorbereitete, bevor er zur Schicht ging. Und am Samstagabend gab es eine Flasche Bier. Nur für ihn. Sie trank nur »ein Gläschen« zu hohen Feiertagen.
    So lebten sie streng gegen den Partner und noch strenger gegen sich selbst durch die Jahre, brachten zwei Töchter durch Schule und Universität, von denen die eine noch dazu leicht behindert war, erwarben ein Haus, hatten ein Auto (nicht den Deputats-Mercedes, den er lieber verkaufte) und führten ein grundsolides Leben. Viel lachen habe ich die beiden nicht sehen, aber sie waren in ihrer Härte glücklich und wohl auch zufrieden.
    War das nun ein falsches Leben im richtigen? Oder ein richtiges im falschen? Oder galten für die beiden solche Kategorien nicht. Ich weiß jedenfalls noch, wie empört der Proletarier Franzi während der Studentenrevolte und der Baader-Meinhof-Zeit war – es war die kalte, nüchterne Empörung desjenigen, der zwar sein Leben lang den Rücken krumm gemacht, aber dennoch das Gefühl hatte, dass »sich Leistung lohnt«. Ein richtiges Gefühl? Ein falsches? Für ihn gewiss das einzig richtige.
     
    Von Stuttgart fuhr ich nach Metzingen, wo der jüngste Bruder meines Vaters, Kurt Karasek, nach dem Krieg gelandet war. Über Esslingen, Plochingen, Nürtingen fuhr ich mit dem Zug nach Metzingen. Die Bahnhöfe sahen wie graue, mit Blumenkästen gesprenkelte Idyllen aus, Häuser mit Türen zum Wartesaal, Überwege, auf denen man die Geleise überquerte, der Weg ins Freie, durch die Sperre, führte rechts oder links am Bahnhofsgebäude vorbei, Bäume säumten den Bahnhofsvorplatz, Sträucher, ein Zeitschriftenkiosk, Zigarettenreklamen, Werbung für die »Revue«, für »Hörzu« mit dem Mecki-Igel. In den Fenstern Geranien, an einem Ende das Bahnhofsrestaurant, am anderen die Wohnung des Bahnhofsvorstehers, der Züge von Esslingen, Plochingen, Nürtingen über Metzingen noch weiter leitete nach Reutlingen, Pfullingen, Derendingen und Tübingen. Und wenn man gar noch weiter wollte, nach Hechingen und Balingen.
    Später, zur Jahrtausendwende, fuhr hier die erste Bahn mit Neigetechnik. Schwaben, siehe Daimler, siehe Benz, war schon immer das Pionierland des technischen Fortschritts – auch wenn sich die Neigetechnik inzwischen als »Schuss in den Ofen« herausgestellt haben sollte. Über die Bahnhofsvorplätze, auf die ich sehnsüchtig schaute (Verweile doch, du bist so schön!), sah man auf Gasthäuser, mit Wirtshausschildern: »Zur Traube«, »Zur Eiche«, »Zum Roß«, »Zum Goldenen Rad«, dahinter Städte, die konzentriert und zersiedelt zugleich aussahen. Die Häuser, Einfamilienhäuser zumeist, zogen sich an der Bahnstrecke entlang, gaben den Blick auf sanfte Hügel frei, in denen sich die Straßen verliefen, alles gepflegt, friedlich, unangreifbar – als hätte es den Krieg nie gegeben, der doch keine fünf Jahre zurücklag, der aber hier in der gesegneten Landschaft, deren Kargheit und Enge ich erst viel, viel später verstanden habe, nicht eine Spur hinterlassen hatte – keine Trümmer, keine Bombentrichter, kein himmelschreiendes Elend, nur Bahnhofsvorsteher mit roten Mützen und rotgrünen Kellen, die »Nürtingen, Plochingen, Metzingen, Reutlingen« riefen und »Bitte Türen schließen!« und »Vorsicht bei der Abfahrt des Zuges!« und »Von der Bahnsteigkante zurücktreten!« Und während ihre herzzerreißenden Pfiffe die Abfahrt durchgellten und die Lokomotiven fauchten und rauchten und dampften und ihre Kraft durch Ventile ausstießen, winkten Menschen aus geöffneten Abteilfenstern den Zurückbleibenden zu: Und ich wollte, ohne es so konkret zu wissen, dazugehören zu dieser Welt, in der man auch blieb, wenn man sich verabschiedete, weil man ja

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