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Auf der Flucht

Auf der Flucht

Titel: Auf der Flucht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hellmuth Karasek
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auf und ab, las in einem Armsessel sitzend die Lokalzeitung (den »Sannental-Boten«, wenn ich mich recht erinnere), sonntags rauchte er einen Stumpen oder auch eine Pfeife. Er war der Vater meiner (angeheirateten) Tante.
    »Opa Binder«, von seiner Tochter »Vatter« gerufen, war ein wortkarger, schüchterner, freundlicher Mann. Trat ich ins Zimmer, in dem er schon war, oder kam er ins Wohnzimmer, wo ich schon saß und las, dann sagte er kurz: »So« oder »Jetzet«, und dann lächelte er mich freundlich an, die braun gebeizten Zahnstummel zeigend, während sein Gesicht eben noch Schmerz gepeinigt gewesen war wegen des gichtigen Hinkens, aber nur solange er sich unbeobachtet glaubte. Dann, nach einer Pause, fragte er mich: »Bue, wit n Moscht?« (Bub, willst du einen Most), und noch ehe ich »ja« sagte, wusste er schon, dass ich ja sagen würde, und lachte noch breiter, drückte mir einen taubengrauen Steinkrug mit blauen Glasierungen in die Hand und schickte mich in den Keller, wo zwischen allerlei Gerät in Holzfässern der Apfelwein lagerte, kellerkühl, ein herrlich herbes Getränk. Und wenn ich mit ihm das erste kleine Glas getrunken hatte, grinste er mir wieder wohlwollend ins Gesicht. »Gell, des tut gut!« Und meine Tante, seine Tochter, sagte jedes Mal, wenn mir ihr unvergleichlicher schwäbischer Kartoffelsalat, goldgelb, saftig glänzend, offensichtlich schmeckte: »Salat, mein Laben!«, und lachte freundlich wie ihr Vater und wurde durch ihr Lachen schön.
    Onkel Kurt, Jahrgang 1910, war im Krieg rasch Leutnant geworden, hatte lange vor Leningrad gelegen, das der deutschen Belagerung und Umklammerung unter vielen Entbehrungen und unendlichen Leiden (von denen ich damals nicht das Geringste wusste) standgehalten hatte. Zu seinem Glück war er von Hitler mit vielen seiner Kameraden von der Ostfront abgezogen und nach Belgien in die letzte verzweifelte Offensive, die Ardennen-Offensive, geworfen worden. Zu seinem Glück, denn so kam er nicht in russische, sondern in amerikanische Kriegsgefangenschaft. Statt viele Jahre, ständig mit dem Erschöpfungstod bedroht, in russischen Lagern zu verbringen, wurde er von den Amerikanern mehrere Monate, hauptsächlich im Freien, festgehalten, wo auch fürchterlicher Hunger herrschte, und dann entlassen.
    Wohin? In seine tschechische Heimatstadt Brünn konnte und wollte er nicht mehr, und so nahm ihn ein anderer entlassener Leutnant, sein Kriegskamerad Bräuchle, mit ins württembergische Metzingen. Bräuchle war der Erbe einer Brauerei, auf einmal also dem im Kriege gleichgestellten Kameraden haushoch überlegen, der nur noch Flüchtling war, ein heimatloser Habenichts.
     
    Der Zufall wollte es, dass im Nachbarteil des Hauses der Bräuchles Irmgard Adam, geborene Binder, lebte, Tochter des Gerbermeisters Binder. Ihr Mann war im Krieg gefallen, ihr Sohn noch klein, ihr Vater Witwer, sie besorgte das Haus, eine gute und gut gelaunte Köchin und eine Hausfrau, die über ihre unendliche Knochenarbeit in dem großen Haus kein Gewese machte. Nur die dicken, ständig angeschwollenen Beine und die rot aufgeweichten Hände – damals hätte man ungläubig gelacht, wenn jemand etwas von Waschmaschinen oder gar Geschirrspülmaschinen fabuliert hätte – machten ihr Schwierigkeiten.
    Als ich nach Metzingen kam, waren meine Tante und mein Onkel schon ein Paar – im Umzug. Mein Onkel zog von den Bräuchles zu den Binders, eine Tür im gleichen Haus weiter, die beiden hatten selbstverständlich vorher geheiratet.
    Onkel Kurt, ein sentimentaler, gutmütiger, aber auch jähzorniger und rechthaberischer Mensch, hatte eine irrsinnig hohe Meinung von sich, seinem Vater, seiner Familie und seinem Vatersnamen. Für diese hohe Meinung gab die Realität in den folgenden Jahren immer weniger her. Sein Ansehen schwand im württembergischen Aufstieg, im Wirtschaftswunder. Obwohl er im Metzinger »Liederkranz« sang, ein heller, etwas gequälter Tenor, fiel er allmählich, aber unaufhaltsam aus der Metzinger Gesellschaft. Er arbeitete als Buchhalter bei einer Textilfirma und war so etwas wie Prokurist, wurde aber rigoros ausgemustert, als die Söhne als künftige Eigentümer seine Arbeit im väterlichen Betrieb übernehmen konnten. Er war auf einmal nur noch ein Flüchtling und fuhr als Angestellter (nicht als Beamter) zu einer Tübinger Finanzbehörde.
    Ich habe ihn noch als zugehörig zur Metzinger Gesellschaft erlebt. Wenn alle am Boden sind und alle unten, sind eben auch alle gleich. Er

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