Auf der Flucht
musste. Ich habe mir nach dem Gespräch mit ihm (er war damals vierundvierzig Jahre alt) vorgestellt, wie er mit meiner Mutter (damals vierzig Jahre alt und mit fünf Kindern gesegnet und gestraft, dessen Ältestes ich war) darüber diskutiert hat, habe mir die Situation ausgemalt, rekonstruiert.
Sie findet die Präservative, ist überrascht, geschockt, bestürzt. Sie zeigt ihren Fund meinem Vater. Hellmuth ist gerade siebzehn, sagt sie. Und dass er mit mir sprechen müsse. Von Mann zu Mann, von Vater zu Sohn. Mein Vater sieht das ein, ja, er werde mit mir sprechen. Dann nimmt er all seinen Mut und seine Autorität zusammen und spricht mit mir.
Was er mir im Einzelnen gesagt hat, weiß ich heute nicht mehr. Ich weiß nur noch, dass seine Ermahnungen – um solche muss es sich gehandelt haben, obwohl mein Vater zu Ermahnungen nicht besonders fähig war – in einem Zitat von Walter Flex mündeten: »Rein bleiben und reif werden«, sagte mein Vater und ich weiß nicht (mehr) ob er mich dabei ansah oder dabei mit seinen Augen, die den meinen glichen (vielmehr meine den seinen in dem Graugrün, das bei ihm damals schon leicht wässrig geworden war, wie inzwischen längst das Graugrün meiner Augen), an mir vorbeischaute. »Rein bleiben und reif werden«, das sei »die höchste und schwerste Lebenskunst«.
Mein Vater sagte das mit dem Glauben und der Überzeugungskraft, die ihm, dem ehemals »Jugendbewegten«, dem »Wandervogel«, zu Gebote standen. Er hatte, als er jung war, gesungen, wenn auch falsch, denn er war herrlich unmusikalisch: »Aus grauer Städte Mauern / ziehn wir durch Wald und Feld / Wer bleibt, der mag versauern / Wir fahren in die Welt.« Und er hatte mitzusingen versucht: »Im Frühtau zu Berge wir ziehn, falera. Es grünen die Wälder und Höhn, falera! Und die zweite Strophe: »Ihr alten und hochweisen Leut', falera! / Ihr denkt wohl, wir wären nicht gescheit, falera! / Wer wollte aber singen, wenn wir schon Grillen fingen / In dieser so herrlichen Frühlingszeit.«
Jetzt war der Frühling, der Wandervogelfrühling, längst vorbei, der Krieg verloren, in den die Wandervögel gezogen waren, obwohl sie doch vielleicht ahnten, dass das nicht ihr Krieg war. Und er, mein Vater, gehörte längst zu den »alten«, wenn auch nicht zu den »hochweisen Leut«, falera!, und er musste mir beibringen, dass es nicht gut wäre, wenn man mit siebzehn »Pariser« in der Tasche hätte.
Ich weiß noch, dass ich mich bei dieser Ermahnung, in der es um Präservative ging, die mein Vater, glaube ich, nicht einmal erwähnte, nicht besonders unglücklich fühlte. Und ich war auch gar nicht beschämt. Und ich versuchte mich auch nicht zu rechtfertigen. Wofür auch? Und mein Vater hat es auch gar nicht erwartet. Und ich habe die Situation auch nicht als grotesk empfunden, dass nämlich Väter, die in Russland waren und Mord und Totschlag kannten und wahrscheinlich Wehrmachtspuffs vor der Schlacht, von »rein« und »reif« sprachen, von »bleiben« und »werden«. Erst viel, viel später habe ich verstanden, warum die Menschen in den fünfziger Jahren Recht hatten, wenn sie sich was vorlogen von »rein« und »reif« und »reiner Menschwerdung«.
Das war zwar das, was wir später »spießig« nannten und »verlogen«, und wir rechneten es dieser Generation vor, dass sie KZs geduldet hat und Kriegsverbrechen und den Hitler'schen Darwinismus vom Recht des Herrenmenschen und gleichzeitig von Jugendlichen geträumt, die aufwiesen tanzen und singen, Blumen im Haar haben und Trachten tragen. Die rein bleiben, bis sie reif sind. Vielleicht war dies – so absurd es war – das Letzte, das weiter funktionierte, während die Welt in Scherben gegangen war. Es war eine spießige Idylle, mit der sich Deutschland über den »Zusammenbruch« hinwegrettete.
Ich wusste auch, als mein Vater mir auf Geheiß meiner Mutter meine reine Reifwerdung zu erklären versuchte, dass er zwar glaubte, was er mir sagte, aber gleichzeitig verdrängt hatte, dass er sich selbst nicht (jedenfalls nachdem er sich verheiratet hatte) an ihre Regeln hielt. Aber das war in seiner Überzeugung, so glaube ich ihn zu hören, »etwas anderes!«. Ach, mein Vater war ein wunderbarer Pädagoge mit seinem »Etwas-anderes-Sein«! Er wollte beispielsweise nicht, dass ich rauchte. Er kannte wohl kaum die Gründe dafür, die heute als Todesdrohungen auf den Packungen stehen. Zigaretten waren damals teuer, schwer zu bekommen, vor allem Westzigaretten. In den HO-Läden
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