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Auf der Flucht

Auf der Flucht

Titel: Auf der Flucht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hellmuth Karasek
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wagte sich die DDR, die dann DVDR hätte heißen müssen, nicht vor. Das wäre in der deutschen Sprache zu viel des Guten gewesen.
    Jetzt aber, im Spätsommer 1950, lag das Niemandsland an der Grenze, eine fast schon biotopische Wildnis, da in der Hitze, als könnte nichts geschehen. Irgendwo erreichte ich einen Zug, der in der Wärme nach Rost und Eisen roch, obwohl ich eigentlich nicht weiß, wie Rost und Eisen, sondern nur wie die trag idyllischen Eisenbahnen der Fünfziger riechen. Sie hatten Waggons, von denen jeder eine schwer zu schließende Tür über hoher Treppe hatte, Fenster, die sich mit einem breiten Gurt, an dem man ziehen musste, schließen ließen, Abteile, in denen die Sommerhitze stand und die Bänke aus ehemals hellen Holzleisten waren.
    Der Zug fuhr an, fauchend quietschend und knarrend, gewann Fahrt, ich steckte den Kopf aus dem Fenster, musste mit den Augen kneistern, weil ich in Richtung Fahrtwind schauen wollte und mir Russteilchen der fauchenden Dampflok in die Augen kamen. Aber ich sah nach vorne, weil dort ein Mädchen mit offenem Mund zu mir zurück lachte; ihre blonde Mähne verfilzte sich im Wind.
    Der Zug war nur schwach besetzt, das Mädchen und ich trafen uns auf dem Bahnsteig des kleinen Umsteigebahnhofs, während die Lokomotive ausschnaufte. Während der Fahrt konnte man die Abteile nicht verlassen, der Zug hatte keine Gänge. Wir hatten beide stundenlang Aufenthalt, sie etwas weniger als ich. Der Bahnhof war so gut wie menschenleer, auf dem Vorplatz fanden wir eine Bank und begannen gierig in der Nachmittagshitze aneinander herumzuschlecken, uns zu drücken und zu küssen. In meiner aufgestauten Begierde störte es mich wenig, dass sie einen schweren Sprachfehler hatte. Anfangs erschrak ich, als das einladend begehrenswerte Geschöpf beim Sprechen ein wenig röchelte, dann aber, als sie das Küssen stumm machte, vergaß ich das. Und erst als sie nach Stunden weitergefahren war und ich allein durch den heißen Wartesaal, die Toilette, die Halle und über den unkrautüberwucherten Bahnsteig ging, kehrte das Erschrecken wieder. Zum ersten Mal hatte ich, von Begierde angetrieben, etwas getan, was ich nachträglich bereute – vielmehr ich schämte mich, weil ich jemanden geküsst hatte, mit dem ich nicht gerne dabei erwischt worden wäre.
    Es war das erste Mal, dass ich mich so schämte. Es sollte nicht das letzte Mal sein. Später, in Schnitzlers »Reigen«, sollte ich diesem Wechsel des »Davor-Danach«-Gefühls wieder begegnen. Das Stück war bei der Lektüre und nachdem ich den großartigen Max-Ophüls-Film gesehen hatte, sofort ein Stück nach meinem Herzen.
    Davor, danach. Auf dem leeren Bahnhof hatte ich, allein zurückgeblieben und darüber sehr erleichtert, noch die Erinnerung an den schal süßlichen Speichel des Mädchens auf der Zunge und eigentlich war es ja auch kein Danach. Ich langweilte mich auf dem Bahnhof, auf dem es nichts gab, nicht einmal eine Brause oder Limonade. Aber einen Präservativ-Automaten auf der Toilette, der mich neugierig machte. Noch nie hatte ich ein Päckchen Präservative gesehen, in der Hand gehabt. Ich warf DDR-Leichtmetallmünzen ein, beäugte die Pariser, öffnete das Paket, zog ein Gummi heraus, blies hinein wie in einen Luftballon. Das also war es. Ich füllte das Gummi mit Wasser aus der Leitung, warf es dann weg. Die angerissene Packung (»Fromms Act« wahrscheinlich) behielt ich in der Hosentasche. Und als der Zug endlich in Richtung Bernburg fuhr, hatte ich die Präservative längst vergessen, so unwichtig war mir das damals.
     
    Vor der fünften Flucht
     
    Ich war wieder zu Hause, in Bernburg. Und während ich in den kahlen Hinterhof voller Gerumpel hinabstarrte, es war ein Sonntag, ein leerer Tag, wusste ich, dass ich hier nicht bleiben würde, dass ich nach dem Abitur sofort »nach dem Westen machen« würde, das hatte ich längst auch mit meinen engsten Schulfreunden verabredet.
    Meine Mutter hatte meine Sachen ausgepackt, meine Hemden, Hosen und Socken in die Schmutzwäsche getan. Dabei muss sie wohl auch das angebrochene viereckige Päckchen Präservative gefunden haben. Jedenfalls trat mein Vater mit verlegener Feierlichkeit auf mich zu und sagte, er müsse mit mir sprechen. Derartiges war in meinem Leben, soweit ich mich erinnerte, noch nie passiert: mein Vater, der eine Aussprache mit mir suchte. Ich ahnte nicht, worum es gehen sollte, merkte aber schnell, als er »zur Sache« kam, dass es sich um die »Pariser« handeln

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