Auf der Flucht
gab es aber westähnliche Zigaretten, die ich rauchte, wenn ich sie bekommen konnte, vier bis sechs am Tag. Mein Vater hat mir das kopfschüttelnd untersagt. Ungesund sei es. Und zu teuer auch. Und meine Mutter unterstützte ihn dabei. Sie war sein Echo. Ungesund, jawohl, sei es, zu rauchen. Vor allem in meinem Alter. Ich solle mir ein Beispiel an meinem Vater nehmen. Der habe nie geraucht.
Ich war also der Einzige, der in meiner Familie rauchte. Und immer wieder wurde es mir untersagt und verboten. Und immer wieder wurde mir gesagt, wie schädlich rauchen sei, wie ungesund. Vor allem für einen Heranwachsenden. Wandern sollte ich, schwimmen, Rad fahren!
In unserem Wohnzimmer stand ein schweres schwarzes Möbelstück, das eine Wand füllte, die volle Höhe des hohen Altbauzimmers. Oben lagen hinter einer Glastür Zigaretten. Neben einem Aschenbecher. Täglich lagen da vier bis sechs Zigaretten. Täglich habe ich sie weggenommen und außerhalb unserer Wohnung, versteht sich, geraucht. Täglich waren sie wieder da. Mein Vater hat den Vorrat aufgefüllt. Wir haben nie ein Wort darüber gesprochen.
Nein, wegen meiner Eltern hätte ich nicht nach dem Westen abhauen müssen.
Mit meinem Abitur 1952 habe ich meinem Vater (und damit auch meiner Mutter, sie teilte diese Art seiner Wünsche vollkommen, instinktiv und ohne darüber zu rechten) einen seiner zwei Wünsche erfüllt. Er habe sich, so sagte er, gewünscht, dass alle seine Kinder »Abitur und Führerschein« machen. Wunsch eins war also erfüllt, Wunsch zwei – der Führerschein – musste noch bis Anfang der sechziger Jahre warten.
Als ich mit einer British-Airways-Maschine von Berlin-Tempelhof nach Hamburg-Fuhlsbüttel, mit nur einem mittelgroßen Koffer Reisegepäck, ausgeflogen wurde, dachte ich, dass ich meine Eltern und meine Geschwister für eine lange Zeit – und »lange« war damals ein verschwommener Euphemismus, der die seelische Angst vor einem »nie mehr« wattieren sollte – nicht wieder sehen sollte. Wie auch? Ich hatte mitten in der Hoch-Zeit des Kalten Krieges durch das winzige Schlupfloch Westberlin den »Ostblock« verlassen (ein flüchtender Verräter, wie damals tausend andere jeden Tag für die DDR-Verantwortlichen). Ich erinnere mich, wie meine Eltern mich kurz vor dem Abflugtag in Tempelhof bei ihren Freunden trafen, wie sie mich zum S-Bahnhof brachten, dann eine lange Straße entlang weggingen, wie meine Mutter, die ohnehin klein war, immer winziger wurde, sich beide, Vater und Mutter, er mit einem Hut auf dem Kopf, noch einmal umdrehten, mir schwach zuwinkten und wie ich, tränenlos vor Ohnmacht und Schmerz, so etwas wie »Ende«, »nie mehr« dachte – es war wie im Krieg und es herrschte ja auch ein Krieg, der Kalte Krieg.
Die Bundesregierung charterte für die »Republikflüchtlinge« (Jargon Ost), für die, die aus »politischer Verfolgung« die »Freiheit« wählten (Jargon West, den ich trotz seiner Pathetik nahe an der Wahrheit, ja als Wahrheit, zumindest auch meine Wahrheit empfand), Flüge der PanAm und der British Airways, weil es undenkbar gewesen wäre, die Flüchtlinge, die im Notaufnahmeverfahren den Status »politische Flüchtlinge« erhalten hatten, über Schiene und Straße von der »Insel« Westberlin nach Westdeutschland zu schaffen. Wir wären unweigerlich von der Volkspolizei, den Grenztruppen der DDR, schon bei der Ausfahrt aus Westberlin aus Zügen und Bussen gezerrt und den Strafbehörden zugeführt worden.
Zum ersten Mal in meinem Leben, saß ich in einem Flugzeug und es sollte für über eine Dekade das letzte Mal sein, das war ein Luxus, in dessen Genuss damals wohl kaum jemand, außer den Flüchtlingen, kam.
Da ich den Abschied, die Trennung von meinen Eltern im geheimsten Winkel meines Bewusstseins für endgültig hielt, hat mein Unterbewusstes auch im Laufe der nächsten Monate eine scharfe Trennung vollzogen, wohl um der Trauer, die sicher auch Trauer um familiäre Geborgenheit und Bequemlichkeit war, mit diesem Schritt Einhalt zu gebieten. War das gut, hat mich das kälter als nötig gemacht? Hat es mir mehr Selbständigkeit um den Preis einer gewissen Bindungsunfähigkeit gebracht? Ich habe das nie einer tieferen Selbstbefragung ausgesetzt, weil ich »gut« oder »schlecht« als Kategorien für persönliche Prädis positionen lieber der fatalistischen Einsicht unterworfen habe: Es ist so, wie es ist. Oder noch banaler (aber deshalb nicht weniger richtig) der Operetten-Einsicht der
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