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Auf der Flucht

Auf der Flucht

Titel: Auf der Flucht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hellmuth Karasek
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heute«), die alle westdeutschen Dramaturgen zu einer Reise durch die Theaterlandschaft DDR einlud, von Berlin über Weimar und Leipzig nach Dresden, Halle und Magdeburg.
    Ich kam am Abend vor Reisebeginn in Ostberlin an und wurde im Hotel »Adlon« nahe am Brandenburger Tor einlogiert; das »Adlon« bestand damals nur aus dem ehemaligen Kutschertrakt des ehemals vornehmsten Berliner Hotels, ein düsterer Bau, die Außenfront nur funzelig beleuchtet und voller Kriegsnarben, innen von einer verschlissenen dunkelroten Samtpracht mit abgewetzten Läufern und altmodischen Deckenlampen. Es lag in unmittelbarer Nähe der grell beleuchteten Mauer, die ich in der Nacht aus meinem Hotelzimmerfenster sehen konnte. Mit wohligem Schauder dachte ich, während ich fast die ganze Nacht hinausstarrte, dass ich wohl jetzt, hätte ich so lange gewartet, nicht mehr hätte flüchten können – und ich war froh, dass meine Familie inzwischen längst auch im Westen war, jedenfalls freute ich mich mehr als meine jüngeren Geschwister, die im Westen alsbald ihrer behüteten Kindheit in der DDR nachtrauerten – wohl auch, weil sie die scharfen, schneidenden Kanten des Kapitalismus als Zuspätkommer schmerzhaft zu spüren bekamen.
    Am nächsten Morgen holte mich ein sympathischer junger Redakteur ab und führte mich in die »Theater der Zeit«-Redaktion. Dort stellte sich heraus, dass außer mir nur noch ein Dramaturg der Einladung gefolgt war, und zufällig war auch er aus Stuttgart, von der »Komödie im Marquardt«, also einem völlig unpolitischen privaten Boulevard-Theater. Er war mit seinem »Opel Kapitän« gekommen und so fragte der Redakteur, ob es ihm und mir Recht wäre, mit diesem Auto auf unsere Rundreise zu gehen, und als es ihm und mir Recht war, fragte er, ob es uns etwas ausmachen würde, wenn seine Frau mitkäme. Nicht im Geringsten, sagten wir und holten sie ab.
    Ich habe diese Reise, die als einer der Ansätze zu einer neuen kulturellen Koexistenz zwischen »den beiden deutschen Staaten« von der DDR geplant war – es ging also um die gleichberechtigte Anerkennung –, vor allem dadurch in Erinnerung, dass wir über unvorstellbar verrottete Straßen holperten, manchmal metertiefen Wasserlöchern ausweichen mussten – und das bei Fahrten zwischen Städten wie Jena und Erfurt. Und dass aus den Hotelwasserleitungen, zum Beispiel in der Messestadt Leipzig, rostbraunes Wasser floss. Im Auto, während der Fahrt, bemühte sich der Redakteur tapfer, für die Friedensliebe der DDR-Kulturschaffenden zu werben, und versuchte uns nahe zu bringen, dass wir den Friedenskampf gegen die Revanchisten in unserem Land, der »BRD«, unterstützen sollten. War er aber, zum Beispiel, um auf die Toilette zu gehen, kurz weg, sagte seine Frau, wir sollten nicht glauben, was ihr Mann offiziell sagen müsse, er glaube das auch nicht. Und wie gerne sie beide am westlichen Konsum teilhaben würden, wenn es ginge.
    Ähnlich war es in den Theatern; das »bürgerlichste« mit dem bürgerlichsten Publikum erlebten wir im erschreckend zerstörten Dresden, dessen Ruinen sich wie düstere Zeichen von den scheußlichen Neubauten abhoben. Zuerst sahen wir eine Vorstellung, dann gab es einen Empfang, bei dem viele offizielle Worte an uns zwei Dramaturgen verschwendet wurden, von SED-Funktionären, vom Intendanten. Dann wurde getrunken, die Stimmung lockerte sich und mit den jungen Dresdner Theaterleuten fand eine seltsame Verwandlung statt – wie in Wilhelm Hauffs Märchen mit dem jungen Engländer, dem man die Krawatte lockert und er verwandelt sich zum ungebärdigen Affen, der er ist. Hier war es der politische Druck, der sich ein Ventil suchte. Die eben noch den Friedenskampf gepriesen hatten, waren nach ein bis zwei Bieren wie verwandelt und versicherten uns immer wieder, wir sollten ihrem offiziellen Gerede nicht glauben, sie wollten alle im Grunde wie wir leben – ha, ha, ha, sagten sie mit komischer Verzweiflung, »wir wollen lieber zum ausbeuterischen, kapitalistischen Westen gehören«. Für uns waren sie aufgeschlossene, heitere, ja übermütige junge Menschen, aber ihre Heiterkeit hatte etwas Verzweifeltes. Sie wussten, morgen würden sie wieder nüchtern hinter ihren »Friedenskampf«-Gittern aufwachen.
    Ich habe das Dresdner Schauspiel dann für ein Gastspiel in Stuttgart gewinnen können – das heißt, ich habe die ersten Fäden für einen Gastspiel-Austausch geknüpft.
    Auch an dieses Gastspiel erinnere ich mich noch – auch an die

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