Auf der Flucht
war, leben.
Ich las »In Swanns Welt«, »Im Schatten junger Mädchenblüte«, »Die Welt der Guermantes« und unterstrich wie trunken von den schön verschachtelten Gedanken Prousts, der in die Hirnschalen der Betrogenen, der Verlassenen, der Eifersüchtigen, der Liebenden eingedrungen war, mit dem Bleistift Sätze. Doch wenn ich die inzwischen zerfledderten Bände Jahre, ja Jahrzehnte später wieder zur Hand nahm, konnte ich nicht verstehen, warum ich gerade diesen Satz, diesen Gedanken unterstrichen hatte. Es war, als hätte sich die Emphase eines anderen in diesen Unterstreichungen manifestiert.
So ist das mit dem Erinnern, wenn man es überprüft, überprüfen kann. Während ich das schreibe, schon vier Jahre in einem neuen Jahrtausend lebend, wird der Fahrstuhl in dem Haus, in dem ich wohne, erneuert. Und die Arbeiter schleppen auf einmal Kisten mit Eisengewichten ins Haus, die man offenbar dazu braucht. Gewichte aus schwarzem Eisen! Wie lange waren die aus meinem Gedächtnis gelöscht. Mit großen Gewichten waren Kohlen, waren Kartoffeln ausgewogen worden, mit kleinen Messinggewichten, Zucker und Mehl, Salz und Zwiebeln und Tee. Und während die Arbeiter die Riesengewichte zum Fahrstuhlschacht tragen, fällt mir Joseph Roths »Falsches Gewicht« ein, und der Fernsehfilm mit Helmut Qualtinger, der einen Eichmeister im fernen Galizien spielte, und dass die Waage, die bei uns im Bad steht, ohne weiteres und ohne Eichmeister bei dem »falschen Gewicht«, das nach Diät schreit, Fettgewicht vom Knochengewicht trennen kann, dank digitaler Technik. Wie gesagt, Kraut und Rüben …
Fotos, die wir heute machen, brauchen auch, dank digitaler Technik, keine Filme mehr, Kodak, ein versinkendes Wirt schaftsimperium aus dem letzten Jahrtausend, das noch keine Pixel kannte. Aber alte Fotos habe ich mitge nom men, als ich 1969 von Stuttgart nach Hamburg zog, von Süddeutschland nach Norddeutschland, weg aus der Bleyle-Welt und weg aus der Salamander-Welt, hinein in die Welt der Nivea-Creme und der blauen Marine-Blazer mit den Goldknöpfen. Da überließ ich Theater-Programm hefte im Zentnergewicht dem Müll, alle von Vorstellungen, die ich gesehen hatte; manche hatte ich »gemacht« (gestal tet, wie man sagte), das war damals meine Hauptarbeit, die Hauptarbeit eines Dramaturgen. Die anderen hatte ich sozusagen benutzt, das war eine wichtige Informations quelle für mich als Kritiker. Die beiden Berufe hielten sich in meinen Stuttgarter Jahren die Waage.
Auf dem Müll landeten auch, leider, alle Briefe mit rosa und schwarzen Schleifchen und, glücklicherweise, alle Gedichte, die ich, wie jeder Pubertierende, geschrieben hatte. Manche Zeilen kann ich noch: Ich bin bei Nacht / wenn ferne Züge Abschied singen / Wenn schwarze Schleier über allen Dingen / um dich erwacht« … Und in umarmendem Reim auf die zweite Strophe, die beginnt »Gib acht! Ob du mich hörst…« Genug! Wohltätig hat der Müll die Zeilen verschluckt.
Der Müll der sechziger Jahre, auf dem damals nicht nur die Nierentische, Tütenlampen, »Schneewittchen-Särge« (Braun-Radio plus Plattenspieler), die spitzen Vasen und die Schuhe mit den spitzen Pfennig-Absätzen landeten, zeigte, dass wir uns radikal erneuern wollten, weg mit dem Alten. Ich war von der mobilen Gesellschaft begeistert, der ich den bitteren Spruch des Rittmeisters aus Strindbergs Ehe-Hölle anfügen konnte, »Durchstreichen und Weitergehen.«
Das Gedicht, das damals auch auf dem Müll landete und in dem »bei Nacht, wo ich erwacht« »ferne Züge Abschied singen«, galt Hanne, einer Medizinstudentin aus Tübingen. Jahrzehnte später, also vor rund fünfundzwanzig Jahren, rief sie mich in Hamburg an. Sie führte eine Geburtsklinik, war Anästhesistin, war verwitwet, hatte zwei Kinder und erzählte mir, dass sie ab und zu nach Hamburg in die Oper fahre und ob wir uns nicht sehen könnten. Und dann sagte sie, eher en passant, sie habe noch alle meine Briefe. Als ich das hörte (»wenn ferne Züge Abschied singen«), wurde es mir eng um den Hals, ich musste beim Telefonieren den Hemdkragen öffnen, ich schwitzte. Und während Hanne weitersprach, malte ich mir aus, wie ihre damals noch kleinen Kinder meine Briefe von ihrem Dachboden (von dem hatte sie gesprochen) klauten, um Postbote bei ihren Nachbarn zu spielen (»… bei Nacht / um dich erwacht«). Postbotenspiele konnte ich damals nur leiden, wenn sie von Charles Bukowski waren.
1995 habe ich in »Go West« die Tübinger Zeit mit
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