Auf der Flucht
Hanne, die wie alle jungen Lieben schmerzlich, also glücklich endete – die Trennung, so lernt man später, ist die wahrhaft glückliche Lösung einer Beziehung, bis man, noch später, auch das mit Fug wieder verlernt –, als einen Erinnerungsfilm beschrieben, auch das ist schon wieder fast zehn Jahre her und selbst längst ins Erinnerungsalbum abgelegt. Es ist eine Erinnerung in Fotos, aber schon damals liefen Erinnerungen »wie im Film« ab. Wie hat man sich eigentlich erinnert, bevor es Fotoapparate, geschweige denn Filmkameras gab?
Hanne war damals schon auf dem Wege, sich von mir zu lösen, da ihre Eltern, beides Ärzte, sie lieber auf den Bällen der Studenten schlagender Verbindungen tanzen sahen, wo ihr Vater »alter Herr« war. Und für ihre Trennung lieferte ich ihr, neben miserablen Box-Fotos, die ich von ihr gemacht hatte (sie sah auf ihnen wie ein Gespenst ihrer selbst aus), den Vorwand, den »Grund«: Ich hatte einen Freund, der in Anglistik promovierte, über den »Stream of consciousness« bei Henry James. Er hatte ein Jahr (als Fulbright-Stipendiat) in den USA studiert, und der Bewusstseinsstrom bei Henry James war das Tollste, was man aus Amerika mitbringen konnte. Er hatte eine Freundin, die auch Medizin studierte, Inge. Inge war eine mondäne Frau, keines dieser kleinen Mädchen. Sie kam aus Hannover, hatte kurzes, welliges Haar, schminkte sich und lackierte sich die Fingernägel. In diskretem hellem Lack. Sie sprach auch noch Hochdeutsch.
Zu Christi Himmelfahrt, bei strahlendem Wetter, kam ihre jüngere Schwester zu Besuch. Inge stand mitten im Examen, paukte Tag und Nacht, ihr Freund, mein Freund, saß mit breiten Beinen und hochgeschobenen Knien (er war sehr groß) an der Schreibmaschine, paffte kleine, energische Tabakswolken aus einer kurzen Pfeife und hämmerte in Intervallen den Bewusstseinsstrom des Henry James in die flache Schreibmaschine: Er dissertierte, während fast alle anderen in die kurzen Ferien desertiert waren. Tübingen war leer von jungen Menschen, Tübingen war glühend heiß.
Ich hatte nicht so viel zu tun, und so baten mich die beiden, vielleicht auch, weil sie mir eine kleine Freude machen wollten, mich um ihre Schwester zu kümmern. Vielleicht könne ich sie ins Schwimmbad führen. Sie wussten, dass Hanne über die Feiertage bei ihren Eltern in Bad Rappenau war, sie wussten, dass ich nicht zu meinen Eltern in die Zone konnte, und sie wussten auch, dass ich kein Geld für eine Ausflugsreise hätte. Also sagte ich froh und unschuldig zu.
Dann kam die »kleine« Schwester. Sie war einen Kopf größer als ihre größere Schwester und trug Schuhe mit so hohen Pfennigabsätzen, dass sie zwei Köpfe größer war. In der Hand hielt sie einen weißlackierten oder rotlackierten Kosmetikkoffer, ihr Haar war hellrot gefärbt und toupiert, so dass man Angst hatte, hineinzufassen, nicht nur wegen des Unmuts, den das bei der Trägerin hervorgerufen hätte, sondern auch, weil das Haar den Eindruck von Stahlwolle machte. Sie hatte lange, ochsenblutrot lackierte Fingernägel.
Als wir ins Tübinger Freibad kamen und uns nach dem Umziehen wieder trafen, sah ich, dass sie auch ochsenblutrote Zehennägel hatte. Und einen Bikini! – noch dazu einen getigerten oder leopardisierten. Als sie mit trägen Schritten über die Wiese ging, durchschritt sie ein Spalier von Menschen, die sie ungläubig ansahen. Die verderbte Welt schien ins pietistische Tübingen eingebrochen.
Das Wasser war nichts für sie, dafür badete sie mit bleicher Haut auf einem schmalen Handtuch in der Sonne, und ich zeigte ihr ein paar Kopfsprünge, Imponiergehabe. Wir unterhielten uns. Sie war eine unschuldige, unbedarfte Seele, ein kleines, artikulationsschwaches Mädchen, das für die Tübinger Provinz aussah wie ein Vamp. Ich brachte sie zu ihrer Schwester, sie fuhr wieder in den Norden.
Als Hanne wieder kam, sagte sie mir, es sei aus. Eine ihrer Studienfreundinnen hatte mich mit dem Bikini-Tiger im Bad gesehen. Ob ich mich nicht schäme, mit einem solchen Mädchen herumzulaufen. Ich hatte Hanne in Gedanken, in Worten und in Taten »mein Reh« genannt oder »mein Rehlein«. Nicht sehr geistreich, aber ganz im Geiste der Zeit. Oder auch »mein Fohlen«. Weil sie ein wenig staksig ging und ein bisschen auch »über den Onkel«, wenn sie vom Fahrrad stieg.
Sie nannte mich …, nein, wie sie mich genannt hat, das habe ich wirklich vergessen. Ach, wir liebten damals die Rehe und Fohlen und nur ganz heimlich in den
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