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Auf der Flucht

Auf der Flucht

Titel: Auf der Flucht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hellmuth Karasek
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Menschen die Chance haben, ermordet zu werden, als die Chance, einen Hauptgewinn in der Lotterie zu ziehen. Deshalb liebe ich Nestroy so.
    In seinem »Lumpazivagabundus« tritt der Zufall als eine Art Lotto-Fee auf, die den schlafenden »vacierenden Handwerksburschen« (sie waren, wie damals üblich, auf der Walz: »jetzt kommen die lustigen Tage, Schätzle ade!«) im Traum die Glücksnummer der Lotterie, den Hauptgewinn, verrät. Die Ziehung der Lotto-Zahlen, Fernsehlotterien, das waren im Fernsehen der fünfziger und sechziger Jahre die großen Feierstunden, kurz vor der Tagesschau, in denen das Glück ausgespielt wurde, ihre Ansagerinnen waren und sind die guten Feen des TV-Zeitalters.
     
    In Tübingen sah ich einen Film von Hitchcock. Es war mein erster Hitchcock-Film, der Schwarzweißfilm mit dem Traumpaar Ingrid Bergman und Cary Grant, das in einen Albtraum gerät, und es sollte mein liebster Film von Hitchcock bleiben.
    Es ist ein Film über ein kühles kriminalistisches Kalkül, das vom Zufall der Liebe gefährlich durcheinander gebracht wird. Damals hieß er in der deutschen Synchronfassung »Weißes Gift«. Ingrid Bergman ist da die Tochter eines zu lebenslanger Haft verurteilten Rauschgiftgangsters in Florida, die der US-Agent Grant überredet und als Komplizin der CIA dafür gewinnt, einer Rauschgiftbande in Brasilien das Handwerk zu legen. Sie heiratet einen Freund ihres Vaters, um die Bande zu überführen, den Claude Rains (in »Casablanca« spielte er den französischen Capitaine Renault mit den unsterblichen Schlusssätzen von der wunderbaren Freundschaft) als Schurken und Opfer spielte. Natürlich erliegt er der vorgespielten Liebe der Bergman, die wiederum von Grant auf ihn angesetzt wird. Am Ende ist der Rauschgiftring aufgeflogen, Ingrid Bergman wird von Grant mit geradezu masochistisch-sadistischer Leidenschaft in die Arme des Feindes getrieben und erst buchstäblich im letzten Moment aus den Fängen des Todes gerettet.
    Als ich mich an dem grauen Nachmittag blinzelnd wieder aus dem Kinodunkel ins schräge Tageslicht zurücktastete, hatte ich einen Film gesehen, der mich mit seinen Bildern, seiner verqueren Leidenschaft nie wieder loslassen sollte. Und doch hatte ich, was ich damals noch nicht wusste, einen gefälschten Film gesehen. Denn »Notorious«, wie der Film im amerikanischen Orginal hieß (weil Ingrid Bergman als Trinkerin und leichtsinnige Frau einen schlechten Ruf hatte, so dass Grant in seiner rechtschaffenen Spießigkeit, aber auch seinem abgründigen Sadismus, die Größe und Unbedingtheit ihrer Liebe zu ihm nicht erkennen kann), handelte gar nicht von Rauschgift und Rauschgiftschmugglern, sondern von Nazis, die aus dem besiegten Deutschland geflohen und in Südamerika untergetaucht waren (was nach 1945 der traurigen Realität entsprach), um aus Uran eine Atombombe zu entwickeln. Das Drehbuch des Films stammte von Ben Hecht (der bald darauf ins Visier McCarthys geriet), und die amerikanischen Geheimdienste hatten die Dreharbeiten Hitchcocks argwöhnisch beäugt: Was wusste der britische Hollywood-Regisseur von Uran, von deutschen Wissenschaftlern, von der Atombombe? Dieser Film war von hochpolitischer Brisanz.
    Für die deutsche Fassung aber hatte das amerikanische Studio, einfach durch Synchronisation, aus Nazis Rauschgiftschmuggler, aus Uran Rauschgift gemacht. Der Film hatte nichts mehr mit dem Kriegsende und Nazis, die sich nach Südamerika retten (wie etwa Eichmann), zu tun. Das amerikanische Studio wollte sich durch Politik nicht das Geschäft in Deutschland verderben und, unmittelbar nach dem Krieg, nicht die Gefühle deutscher Zuschauer verletzen. Im Übrigen schadete diese ganze Manipulation, so empörend sich das heute anhört und so empört ich war, als ich davon erfuhr, dem Film nicht im Geringsten. Denn ob Atombombe und Uran oder Rauschgiftdealer und »Weißes Gift«, in Wahrheit war dies nur der »McGuffin«, also der äußerliche, austauschbare Vorwand des Films, in dem es Hitchcock um eine verquere Dreiecksgeschichte à la Mata Hari ging – eine Liebesgeschichte mit drei Opfern.
    Anders war das mit »Casablanca«, wo die deutsche Synchronisation die deutschen Zuschauer vor dem rivalisierenden Wettgesang zwischen »Marseillaise« und »Wacht am Rhein« schützte, indem sie diese kriegspatriotische Sequenz – Reeducation hin oder her – einfach rausschnitt.
    Was das alles mit Zufall, außer dem Zufall, von dem der Film handelt, zu tun hat? So viel, dass ich diesen

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