Auf der Flucht
um seiner selbst willen geliebt zu werden.
Es ist gewiss kein Zufall, dass Nestroy keine Tragödien, sondern Komödien geschrieben hat. In Tragödien arbeitet das Schicksal mit Schuld und Sühne, mit Charakteren, mit tragischer Bewährung, in der Volkskomödie aber mit dem Zufall – ein besoffener Kutscher, der die Leute zusammenführt (was auch so viel heißt wie zusammenfahren, über den Haufen fahren).
Der verrückteste Ausdruck des Zufalls ist die Lotterie. Und in Nestroys vielleicht populärstem Stück, dem »Lumpazivagabundus«, lässt er das »liederliche Kleeblatt« der drei Handwerksburschen, Schuster, Schneider und Tischler, durch eine Glücksfee das große Los ziehen.
Es ist gewiss kein Zufall, dass Nestroy wie auch die Autoren und Komiker seiner Schule, also Horvàth oder auch Karl Valentin oder der junge Brecht, mich ein Leben lang beschäftigt haben. Ich habe Nestroy geliebt, gelesen, über ihn geschrieben, Aufführungen seiner Stücke, wo ich konnte, gesehen, angeregt, über sie berichtet. Ich habe Schauspieler und Schauspielerinnen, die in seinen Stücken spielten, bewundert, verehrt, geliebt: Helmut Qualtinger und Helmut Lohner, Gertraud Jesserer und Josef Meinrad. Und als ich zum ersten Mal in New York war, weil ich später als Professor in Neuengland unterrichten sollte, da habe ich im Hotel »Algonquin«, in dem ich nicht zufällig, sondern mit voller Absicht abgestiegen war, zufällig einen älteren Herrn kennen gelernt; wir haben uns in der Bar unterhalten, und als er mich fragte, was ich unterrichten würde, sagte ich, Volksstücke, zum Beispiel Nestroy, den würde er sicher nicht kennen, der habe in österreichischer Mundart, wenn auch in einer Art barocker Kunst-Mundart, einer theatralisch entlarvenden Mundart geschrieben. Der Mann erwiderte, dass er Nestroy sehr wohl kenne, und ich antwortete (mit Karl Valentin), das sei aber ein seltener Zufall. Am Ende unserer Unterhaltung stellte sich dann aber heraus, dass es bei allem Zufall kein Zufall war, dass er Nestroy kannte, denn er hatte das Stück »Einen Jux will er sich machen« (in dem Angestellte einmal in der Großstadt richtige Kerle spielen wollen und ihnen vom Zufall übel mitgespielt wird; übel und heilsam, wie es sich für eine Komödie gehört) von Nestroy übersetzt. »The Matchmaker« hieß es auf Amerikanisch, und daraus wurde, welch glücklicher, welch schöner Zufall, nichts weniger als das Erfolgsmusical »Hello, Dolly« von Jerry Herman, was wie ein Lotteriegewinn für den Autor war. Und der stellte sich zum Abschied im »Algonquin« vor, schrieb mir eine Widmung in ein Taschenbuch (»Our Little Town«), das ich mehr oder weniger zufällig bei mir hatte, um meinen Sohn Daniel, den ich nicht zufällig, sondern wegen meiner Scheidung bei mir hatte, in Englisch zu unterrichten. Der Autor war Thornton Wilder (der nur zufällig wie Billy Wilder hieß, den ich damals noch nicht kannte und der Nestroy natürlich auch liebte, wie sich herausstellte).
Es war also kein Zufall, dass ich Nestroy liebte, gewiss nicht. Denn zum einen stammte ich wie er aus Mähren, sein Name ist so böhmisch, oder besser: so mährisch wie meiner, zum zweiten hatte ich eine angeborene Affinität zu seiner Sprache, aber zum dritten (und das vor allem) war ich fasziniert von seiner besessenen Beherrschung der Dramaturgie des Zufalls. Ich war ja wie meine Generation und die Generation meiner Eltern vom Zufall durcheinander gewürfelt worden (Zufall ist Kohls »Gnade der späten Geburt«, Zufall ist die Ungnade der frühen Geburt meiner Eltern). Zufall, ob man in Österreich oder in Preußen geboren war; Zufall, ob man in russische oder amerikanische Gefangenschaft kam, Zufall, ob man als Heimatvertriebener nach Sachsen oder nach Hessen oder Niedersachsen »ausgesiedelt« wurde, Zufall war es, ob man vor dem Bau der Mauer oder nach dem Bau der Mauer die Nase voll von der DDR hatte; Zufall, ob man wie Walter Kempowski wegen seiner Ablehnung der sowjetischen Besatzungstruppen für acht Jahre ins »gelbe Elend« von Bautzen kam und schon vorher in Untersuchungshaft buchstäblich in der Scheiße stehen musste, oder ob man zufällig, wie ich, weglaufen konnte und in eine Welt der Hygiene, der Düfte, der Deodorantien kam.
Über den Zufall darf man gar nicht nachdenken. Der Zufall macht einem Angst und Bange, und wenn man mich fragt, warum ich nicht Lotterie spiele, sage ich, dass statistisch gesehen – die Statistik ist das Gesetzbuch des Zufalls – mehr
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