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Auf der Flucht

Auf der Flucht

Titel: Auf der Flucht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hellmuth Karasek
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schwülen Träumen begehrten wir die Tiger, Leoparden und Panther im Bikini.
    Die Nächte nach solchen Trennungen! Man liegt wach im Bett, draußen wird es langsam hell, die Gedanken kreisen, da springt man auf, will hinaus, will weg. Ich habe mich hastig angezogen, bin losmarschiert. Ich wollte weg, ganz weit weg, hinaus in die weite Welt. Nach Stuttgart! Mindestens! Ich stürzte durch das morgenfahle Tübingen, keine Seele auf der Straße, kam durch Bebenhausen, hatte keinen Blick für das Kloster, für die tauglänzenden Wiesen, die in der Morgensonne aufblitzten. Ich lief die Bundesstraße in den Schönbuch entlang, die Kühle des Waldes ließ mich Übermüdeten frösteln. Plötzlich hörte ich ein Auto. Wie ein akustischer Schwertstreich durchschnitt es die Stille, das Vogelgezwitscher. Ich hob den Arm, den Daumen, um mitgenommen zu werden. Das Auto fuhr vorbei. Meine Flucht war zu Ende. Ich kehrte zerschlagen in mein Zimmer zurück und verschlief den Vormittag. »Literatur des Sturms und Drangs«, Professor Kluckhohn. »Schick mir dafür den Doktor Faust, sobald dein Kopf ihn ausgebraust!«
    Um 14 Uhr ging ich ins Kino. Studenten zahlten da fünfzig Pfennig. Vielleicht sah ich an diesem Nachmittag »Sabrina« – denn das war 1954. Mit Humphrey Bogart, William Holden und Audrey Hepburn. Audrey Hepburn, ein Reh? Ein Fohlen? Und die Männer reißende Löwen, die sich vor ihrer Unschuld in sanfte Lämmer verwandeln. Gütig-selbstlos geben sie Pfötchen und lassen sich den Kopf kraulen.
    Es war mein erster Billy-Wilder-Film, und für mich war es damals ein Audrey-Hepburn-Film. Oder ein Humphrey-Bogart-Film, Bogart, der sich wegen Audrey Hepburn – die damals auch »Ein Herz und eine Krone« spielte, mit Gregory Peck, »Ein Herz und eine Krone«, was für ein zeitgemäßer Titel! – erst aus kapitalistischer List und dann aus Liebe von einem harten Knochen in einen Süßholzraspler verwandelt. Der Film rührte mich, aber damals schämte ich mich auch, dass ich im Kino meine Zeit vertrödelte, statt in der Bibliothek zu sitzen. Später wusste ich, dass ich meine Zeit im Kino besser verbracht hatte.

 
     
     
    In der Kulturrevolution
    Das Jahr '68 und die
    vorauseilenden Folgen
     
     
     
     
     
     
     
    »Der Zufall muss ein b'soffener
    Kutscher sein – wie der die Leut'
    z'samm'führt, 's is stark«
    Nestroy

 
    Zufälle
     
    Es ist gewiss kein Zufall, dass Nestroy der große Stückeschreiber des Zufalls ist. In seiner Zeit, der des Wiener Vormärz und der ersten industriellen Revolution, tanzten die politischen Verhältnisse in den Nachwirkungen der Französischen Revolution und der nationalen Aufstände (Ungarn), um danach wieder in den Zeiten der Restauration zu erstarren. So hat er Volksstücke und Komödien geschrieben, die »Frühere Verhältnisse«, »Zu ebener Erde und erster Stock« oder im Untertitel »Die Launen des Glücks« heißen: Aus ehemaligen Hausknechten werden Herren, aus Herren durch unglückliche Zufälle Hausknechte, Kometen am Himmel sagen das Unglück voraus. In Zeiten, wo man ganz schnell oben, aber auch ganz schnell wieder unten sein kann, geht es um mehr als um die standesgemäße Liebe, um die wahre Liebe (die verschleiern muss, dass es um die Ware Liebe geht). Nestroy hat im »Zerrissenen«, wo ein Herr von Lipps (für diesen Reichen findet Nestroy das herrliche Wort »millionärrisch«) von der großen Leiter durch Gedächtnisverlust ins Knecht-Leben stürzt, daraus den Trick der wahren Liebe gemacht, wie auf seinen Spuren Chaplin in dem wunderbaren Happyend von »Gold Rush« – wobei der »Gold Rush« selbst schon ein wütender, weil geplanter Ansturm auf den Zufall ist, das Goldgräberfieber. Also: Am Schluss ist Charlie durch Zufall (sein Kumpel, der ihn eben noch im hungernden Wahn auffressen wollte, hat die große Gold mine auf seinem Claim gefunden) steinreich. Und für die Fotografen auf dem Überseedampfer posiert er noch einmal als Clochard, als Habenichts, und bei dem Foto –bitte noch einen Schritt zurück!, ja, bitte noch einen! – kippt er (wie Herr von Lipps) als Armer verkleidet, der er einmal war, über die Reeling zu den wirklich Armen, und seine Angebetete sieht ihn und hat Erbarmen mit ihm, das sich in Liebe verwandelt. So erlebt der Zuschauer, dass der Zufall den Anschein der wahren Liebe im Happyend erzeugt. Sie liebt ihn, der sie bisher vergeblich liebte, um seiner selbst willen, während er es doch längst schaffen würde, als Millionär auch nicht nur

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