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Auf der Flucht

Auf der Flucht

Titel: Auf der Flucht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hellmuth Karasek
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unternehmungslustig – nur Geld hatte ich nicht.
    Zwar konnte ich ab und zu kleinere Artikel im Lokalteil loswerden, über ein Blaskonzert der Post oder einen Ball in einem feinen Hotel, zwanzig Zeilen für zwanzig Mark, zwar schrieb ich für eine literarische Monatszeitschrift Artikel, aber all das reichte nicht einmal dafür, mir die Wäsche waschen zu lassen. Mein Leben in München war eigentlich so, als hätte man mich mit zugenähtem Mund und gefesselten Händen in einer Konditorei eingesperrt. Dabei schien München vor lauter Lebenslust aus allen Nähten zu platzen. Gegenüber dem Haus, in dem ich wohnte, war das berühmte Lokal »Gisela«, in dem die Wirtin das Lied vom Novak jeden Tag neu sang: »… ich hätt' am liebsten Rattengift genommen / aber der Novak lässt mich nicht verkommen«. Mich aber ließ München sehr wohl verkommen, ich war wie der hungrige Clochard in einem Chaplin-Film, der sich die Nase an Schaufenstern platt drückt, hinter denen unvorstellbare Luxusgüter ausgebreitet sind. Einer meiner Lieblingsmusiker war damals der Jazz-Trompeter Chet Baker und sein mit rostig gebrochener Stimme vorgetragenes »But not for me« (»They're writing songs of love, but not for me!«) war meine private melancholische Nationalhymne.
    Irgendjemand hatte mir erzählt, das Goethe-Institut, das damals in dem schönen, wenn auch noch nicht renovierten Bernheim-Palais am Lenbachplatz residierte, suche »Dozenten«, das heißt Sprachlehrer für seine Kurse, wo den nach Deutschland strömenden Ausländern, Gastarbeitern und Gaststudenten, künftigen Ingenieuren und Ärzten in mehrmonatigen Crash-Kursen ein elementares Deutsch beigebracht wurde. Die Kurse waren überlaufen, der Dozenten-Job hatte Konjunktur. Da die meisten Studenten damals Araber, Kurden, Südamerikaner oder Japaner waren, wurde Deutsch auf Deutsch unterrichtet. Ich bewarb mich also im Bernheim-Palais, wurde prompt angenommen und innerhalb eines Monats bereits nach Brilon im Sauerland geschickt (dort, wo Friedrich Merz nach eigener Auskunft seine wilden Jugendjahre verlebte und auf den Putz gehaut haben will, dass es nur so krachte).
    Wir Lehrer waren große Pantomimen im Kopfschütteln und Die-Arme-Ausbreiten, wie in ratloser Verzweiflung: »Ich habe Hunger – ich habe kein Brot!« – die Arme öffneten sich in gespielter Verzweiflung, nachdem eine Hand vorher über den leeren Bauch gekreist war. »Zahlen! Herr Ober, bitte zahlen!«, brachten wir den Studenten bei, indem wir zwischen Daumen und Zeigefinger imaginäre Münzen zählten, imaginäre Scheine hinblätterten. Ich war, so stellte sich schnell heraus, ein Meister und Clown dieser lehrreichen Sprachvermittlungs-Szenen und daher ziemlich beliebt bei meinen Studenten.
    Bevor ich aber München verließ, rief mich noch Hans Joachim Sperr, der Feuilleton-Chef der »Süddeutschen«, bei der damals schon das Wunderkind Joachim Kaiser große Rezensionen über die Salzburger Festspiele schreiben durfte, zu sich.
    Wochen vorher war ich in einem Anflug von Größenwahn in sein Büro vorgedrungen und hatte ihn gebeten, mich ein Buch rezensieren zu lassen. Er hatte die Augenbrauen hochgezogen: »Sie? Für die Süddeutsche?« Ich wies auf meinen Dr. phil. hin, und schließlich gab er mir, indem er willkürlich in das Bücherregal hinter sich griff, einen irischen Roman. »Hier. Probieren Sie's!«
    Jetzt, wo es zu spät war, ich meine Papiere und meinen Fahrschein ins Sauerland schon in der Tasche hatte, jetzt eröffnete er mir, dass meine Rezension »gar nicht so übel« sei. Und er würde sie veröffentlichen. Ich hätte also doch in München bleiben können, zumal ich meinem Vetter Rudi am Wochenende zuvor seine Angebetete ausgespannt hatte, die er mir auf einem Abendfest in der »Reitschule« stolz vorgestellt hatte. Sie machte sich einfach nichts aus ihm und so konnte ich schon nach dem ersten Abend bei der geschiedenen Frau frühstücken, die in einer großen Wohnung in der Elisabethstraße lebte. Ihr Mann hatte ihr die mitsamt seinen vielen Büchern überlassen müssen. »Schwoastelst du a so wie i?«, hatte sie mich in breitestem Bayerisch beim ersten Tanz in der »Reitschule« gefragt. Es war wirklich sehr heiß, trotzdem war ich erschrocken, weil ich es so deftig nicht gewöhnt war.
     
    Jetzt also war ich in Brilon, unterrichtete, indem ich mir mit der Hand über den Bauch rieb, Sätze wie »Herr Ober, ich habe Hunger!« und, indem ich einen Zettel hob, Aufforderungen wie »Bringen Sie mir

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