Auf der Flucht
die Speisekarte!«. Ich schlief in einem Bauernhaus in einem düsteren Zimmer, das unmittelbar neben dem Pferdestall lag: In der Nacht hörte ich von Zeit zu Zeit das dumpfe Stampfen der Tiere.
Ich hatte angenehme Kollegen, Friedrich Schmöe etwa, der in Göttingen studiert hatte. Wir saßen manchen Abend bei einem Bier und einem westfälischen Schweinepotast, dem noch mehrere Biere und Körner folgten, und unterhielten uns wie Landsknechte in einer fremden Garnison. Wir konnten uns das Essen und das Trinken leisten, erstmals in unserem Leben, und so leisteten wir es uns, bestellten im reinsten Hochdeutsch und ohne pantomimische Untermalung bei der hübschen Kellnerin, was wir wollten, und blickten ihr, wenn sie zum Tresen und in die Küche entschwand, sehnsuchtsvoll zerstreut nach.
Unsere Hoffnung war, eines Tages aus Brilon in ein Auslandsinstitut in irgendeinem exotischen Land geschickt zu werden: nach Kabul, nach Ankara, nach Mexiko oder nach Caracas. Im kleinen Brilon öffnete sich ein enger Spalt zur »großen weiten Welt«, von der die Zigarettenreklame der »Peter Stuyvesant« auch in Nordrhein-Westfalen, nahe der Grenze zu Niedersachsen, kündete. Andererseits fühlte ich mich, nach dem abrupt abgebrochenen Aufenthalt in München, meiner unerfüllten Lebensliebe, im Sauerland wie im Exil. Ich war ein süddeutscher Emigrant in Norddeutschland.
Manchmal spielten wir, mit anderen Kollegen, die sich von ihren Ehefrauen frei nahmen, was diese naturgemäß nicht gern hatten, auch Skat. Was auch sonst sollte man in Brilon machen, das zwar ein Kino hatte, aber keine Bibliothek und eine Buchhandlung, die in ein Schreibwarengeschäft integriert war. Auch die Bibliothek des Goethe-Instituts war überschaubar.
Ich hatte damals viele Studenten aus arabischen Ländern, besonders aus den Emiraten, in meinen Kursen, sie waren äußerst lebhaft, manchmal auch kindlich freundlich, und waren mir, da ich versuchte, ihnen Deutsch möglichst vergnüglich beizubringen, offensichtlich sehr dankbar. Allerdings gab es merkwürdige Zwischenfälle. Zum Beispiel einen mit zwei kurdischen Studenten.
Ich hatte in der Unterrichtsstunde Bejahen und Verneinen geübt, Haben und Nichthaben, Sein und Nichtsein, das Ganze als Dialogspiel, wie es das Unterrichtsbuch »Der Schultz« vorsah (das die Leiterin des Goethe-Instituts in München, Frau Dr. Schultz, verfasst hatte und das für das Institut sozusagen monopolisiert war). Also sagte ich zu dem Schüler Ali: »Ich habe eine neue Tasche!« Und Ali musste antworten: »Aber ich habe keine neue Tasche!« Dann durften sich die Schüler selbst Beispiele aussuchen und im Verlauf dieses Spiels sagte der eine kurdische Student zu dem anderen: »Ich habe keinen dicken Kopf!« Und der andere, durch die Regeln genötigt, musste antworten: »Aber ich habe einen dicken Kopf!« Er tat dies brav und das Spiel ging weiter. Dann war Frühstückspause, die Studenten vergnügten sich auf dem Hof, tranken Kaffee, Tee, Coca-Cola, ich rauchte im Lehrerzimmer. Plötzlich große Unruhe, große Aufregung, ein Unfall, ein Zwischenfall.
Ein Student wankte mit einer tiefen Stichwunde ins Lehrerzimmer, wir orderten einen Notarztwagen. Es stellte sich heraus, dass der kurdische Student, der von seinem Landsmann genötigt worden war, zu sagen: »Aber ich habe einen dicken Kopf«, den Beleidiger niedergestochen hatte. Vor mir, dem Lehrer, hatte er zwar in der Stunde brav den eigenen Schimpf laut gesagt, danach aber hatte er sich gerächt. Mit einem Messerstich. Es war Gott sei Dank keine gefährliche Wunde, aber beide Schüler mussten wegen ihres »Haben oder Nichthaben«-Duells des Instituts verwiesen werden, weil sonst die Rache auf die Rache erfolgt wäre.
Am Ende eines Kurses, an dem zwei besonders nette und freundliche kuwaitische Studenten teilgenommen hatten, fand eine Abschiedsfeier statt, auf der die Studenten vor der Abreise, mir zu Ehren und zum Anstoßen (sie hatten das als deutsche Sitte gelernt), sogar ein Glas Wein tranken. »Prost!«, sagten sie und »Prost!«, sagte ich. »Und vielen Dank!«, sagten sie und dann stießen wir die Gläser zusammen. »Und dass alle Juden ins Meer gestoßen werden!« Und als ich ihnen den Trinkspruch verweigerte und abrupt mein Glas niedersetzte und sagte, darauf könne und möchte ich nicht trinken und für solche Sprüche hätte ich ihnen Deutsch nicht beigebracht, sahen sie mich entgeistert an. Entgeistert und verständnislos! Doch nicht hasserfüllt, denn ich war ja
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