Auf der Flucht
einen Band mit Bildern meines Lieblingscartoonisten Deix. »Er ist dein Landsmann«, sagte ich, »und ich finde, seine Zeichnungen haben einen ähnlichen Geist wie deine Filme.« Ein paar Wochen später hörte ich aus Wien, dass Wilder Deix mitten in der Nacht angerufen habe: Er wolle eine Zeichnung von ihm kaufen. Später hat Wilder ein hinreißendes Vorwort zu einem Band von Deix geschrieben. Beide kannten sich aus im österreichischen Bestiarium, das sie durchschauten, wie es nur Liebende und Leidende tun können.
Ich war am 13. August 1961 bei den Salzburger Festspielen und hörte Elisabeth Schwarzkopf als Marschallin im »Rosenkavalier« auf höchst elegische Weise »Ja die Zeit!« singen. Die Nachricht vom Mauerbau war wie ein Schlag vor den Kopf. Und sie wirkte hier in Österreich wie ins Unwirkliche abgefedert.
Bei unserer ersten Begegnung 1986 war Billy Wilder voller Wut über die Waldheim-Affäre, die damals die Welt bewegte. Er redete über seine Landsleute und ich merkte mir seinen Satz, den er vielleicht zitierte: »Die Österreicher haben das Kunststück fertig gebracht, aus Beethoven einen Österreicher und aus Hitler einen Deutschen zu machen.«
Damals in Salzburg hatte ich, ohne den Satz zu kennen, ein ähnliches Gefühl. Hier schien die deutsche Misere, die jetzt in der Mauer kulminierte, seltsam fern, so als beträfe sie dieses Land nicht, das besonders in der Festspielzeit wie enthoben der Zeit und der Geschichte schien. Es war eine Region, in der zwischen Barockkirchen und Felsenkellern der ewige Mozart-Frieden herrschte – zu schön, um wahr zu sein; zu teuer, um sich als Weltglück übertragen zu lassen.
Der Dramatiker Rudolf Bayr, später Intendant beim ORF im Landesstudio Salzburg, lief damals, erfüllt von höchstem österreichischem Feingefühl, durch das von Touristen überfüllte Salzburg und sagte zu Deutschen, die ihre Beine aus kurzen Hosen streckten, sie seien hier in diesem Aufzug unerwünscht. Er sah die Deutschen so wie Deix die Österreicher. Beide hatten recht.
Inzwischen ist Salzburg im Sommer sowohl eine Münchner wie eine Wiener Residenz, internationale Gäste erwünscht.
Billy Wilder, der einmal, nach dem Krieg, in Bad Gastein mit Goldwyn zusammen Ferien machte, hat mir auch dazu eine schöne Geschichte erzählt. Wie er in Berlin am Viktoria-Luise-Platz gewohnt hatte. Damals, in den zwanziger Jahren, als er ziemlich mittellos gewesen sei und unter anderem als Eintänzer gearbeitet habe. Des Nachts konnte er nicht einschlafen, weil die Toilettenspülung kaputt war und permanent lief. Er habe sich vorgestellt, er liege an einem wundervollen Wasserfall und habe so endlich Schlaf gefunden. Jetzt, Jahrzehnte später, in Bad Gastein, habe er in einem wunderschönen Kurhotel gewohnt, nahe an einem rauschenden Wasserfall. Und in der Nacht habe er wieder nicht einschlafen können; diesmal, weil ihn das plätschernde Wassergeräusch an eine defekte Toilettenspülung erinnert habe.
Im Laufe der Jahre habe ich viele solche Geschichten von ihm gehört – Geschichten, die an Friedrich Torbergs »Tante Jolesch«-Anekdoten erinnern, aber auch an die lebensklugen Vergnüglichkeiten von Johann Peter Hebels Kalendergeschichten.
Am 30. Mai 1986 feierten wir den achtzigsten Geburtstag meines Vaters im Hause meiner Schwester in der Bourgogne in St. Vertue. Zum letzten Mal waren alle Familienmitglieder zusammen, und mein Vater, der von seiner schweren Zuckerkrankheit längst lebensmürbe und lebensmüde gemacht worden war, saß inmitten seiner Kinder und Enkel in einem neuen Wintergarten in der alten Scheune des ehemaligen Pfarrhauses; er versuchte hellwach und glücklich zu sein. Ich hatte, durch Zufall, zu dieser erstrebten Zufriedenheit einen Beitrag geleistet, mein jüngster Sohn Niko, im Jahr zuvor exakt am Geburtstag seines Großvaters zur Welt gekommen, feierte mit dem Großvater zusammen: er, unbewusst seinen ersten Geburtstag, mein Vater, der sich mit vorgeschützter Zufriedenheit gegen das eigene Verdämmern aufbäumte, seinen achtzigsten. Und: ohne es zu wissen, seinen letzten.
Meine in Frankreich zur erfolgreichen Geschäftsfrau avancierte Schwester hat unserem Vater wie unserem schwer kranken Bruder Horst das Leben so schön gemacht, wie sie nur konnte, und wenn sie neben unserem Vater saß, schien er wie ein zufriedener Kater zu schnurren – er lächelte dann für Augenblicke in sich hinein, während sich sein Blick, wähnte er sich unbeobachtet, in wässriger Leere
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