Auf der Flucht
verlor. Obwohl unendlich müde, schlich er nachts, wobei er versuchte, niemanden zu stören, durch die Räume, weil er liegend nicht in den Schlaf fand. Dann saß er im Stuhl und wenn ich, geweckt von eigener Schlaflosigkeit, an ihm vorbeiging, konnte ich ihm bestenfalls auf die Frage, wie es ihm denn gehe, ein schwaches ungeduldiges »Gut« entlocken. Und hörte von ihm die Gegenfrage: »Und? Warum schleichst du noch in der Nacht herum?«
Es war das Jahr, in dem am 2 2. Juni auch Billy Wilder achtzig wurde. Und als ich eineinhalb Jahre später wegen der Biographie Tag für Tag mit ihm in Beverly Hills in seinem Büro saß, nahe beim luxuriösen Rodeo Drive und ebenso nahe beim feinsten Teil des Wilshire Boulevard, war mein Vater gestorben. Wilder war von ähnlicher Statur wie er, hatte eine ähnliche Kopfform, nur war er unendlich viel agiler, lebendiger, als mein Vater es in den letzten Jahren gewesen war, und manchmal ertappte ich mich bei dem Wunsch –, ein absurder Wunsch, ich war ja schon zweiundfünfzig Jahre alt und selbst vierfacher Vater –, ich könnte in Wilder eine Art späten geistigen Vater finden.
Es gab auch eine sprachliche Nähe, die ich bei Wilder spürte. Zum Beispiel, als wir von einem Galeristen zum Mittagessen eingeladen waren und ich Wilder, der neben mir saß, im Angesicht des Kellners fragte, ob es denn unverschämt wäre, wenn ich ein Glas Champagner bestellte. Und er antwortete: »Meine Mutter hat immer gesagt, wenn man dir gibt, nimm! Wenn man dir nimmt, schrei!« Da erschrak ich vor Freude, denn genau das hatte mir auch meine Mutter beigebracht: »Wenn man dir gibt, nimm! Wenn man dir nimmt, schrei!«
Ausgerechnet in Hollywood, ausgerechnet in Beverly Hills regredierten wir sprachlich in eine gemeinsame Kindersprache. Als Wilder mir erzählte, dass ihm seine Mutter immer Buchteln, ein süßes dickes Gebäck, meist mit Powidl (Pflaumenmus) gefüllt, in die Schule mitgegeben hätte, schrieb ich das begeistert auf: Auch mir hatte meine Mutter Buchteln mit Powidl gemacht und mitgegeben. Und als ich Wilder später die Stelle zum Lesen gab, strich er das Wort Buchteln und ich war gekränkt und schrieb es wieder hinein. Und er strich es wieder und ersetzte es durch Kuchen oder Semmeln. Und als ich ihn schließlich fragte, warum er denn das schöne Wort gestrichen habe, sagte er, in seiner Jugend seien Buchteln wegen ihrer Form auch die Bezeichnung für weibliche Brüste gewesen. Und dass ihm seine Mutter ausgerechnet Buchteln mitgegeben habe, nein, diese unfreiwillige Komik wolle er nicht riskieren.
Als Steven Spielberg seinen Film »Schindlers Liste« gedreht hatte, fuhr ich für den »Spiegel« zu einem Interview mit ihm nach Hollywood. Danach besuchte ich Wilder. Wir unterhielten uns über den Film. Und Wilder sagte mir, dass es völlig verrückt gewesen sei und gegen sein besseres Wissen, aber er habe sich im Kino dauernd dabei ertappt, vor allem bei den Szenen im Konzentrationslager, wie er nach seiner Mutter, nach seiner Großmutter, nach seiner Tante Ausschau hielt. Und er hat mir den Brief gezeigt, den er an Spielberg schrieb, gleich nachdem er den Film gesehen hatte. Ich habe die beiden Briefe, Wilders bewegendes Kompliment an Spielberg und Spielbergs Antwort, die ein Dank an den großen Filmemacher und Lehrmeister Wilder ist, in die Taschenbuchausgabe meiner Wilder-Biographie aufgenommen. Übersetzt. Merkwürdig ist, dass sich ein Wort nicht richtig übersetzen ließ. Das Wort »mensch«, das im amerikanischen Jüdisch (Wilder lässt es auch den Arzt im »Appartement« so gebrauchen) einen wirklichen, einen menschlichen Menschen meint. Aus gerechnet das deutsche Wort »Mensch« ist für den Menschen vorbehalten, der sich nicht unmenschlich verhält. Meine Arbeit mit Wilder war für mich auch Übersetzungsarbeit, im Sinne von Karl Kraus: »Übersetzen? Üb' ersetzen!«
Während der Arbeit haben wir uns oft über das Wort »collaborator« unterhalten. Wilder nannte all seine Mit-Drehbuchautoren, vor allen Charles Brackett und I. A. L. Diamond, aber auch Raymond Chandler (für »Double Indemnity«) seine »collaborators«. Er selbst nannte sich, wegen »Ninotschka«, »collaborator« Lubitschs, des großen, von ihm bewunderten Vorbilds. Ich habe ihm oft erzählt, dass das Wort im Deutschen durch die Nazis einen üblen politischen Beigeschmack bekommen habe – wie das Wort »Quisling« (nach dem norwegischen Nazi-Kollaborateur). Trotzdem bin ich ziemlich stolz, dass
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