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Auf der Flucht

Auf der Flucht

Titel: Auf der Flucht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hellmuth Karasek
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und richtig Neal Gablers Thesen seien.
    Wilder ist einer der (späteren) Mitschöpfer dieses Empires. Mit Lubitsch hat er Europa, das alte Europa, das alte Osteuropa, das jüdische Europa Wiens, Budapests, Berlins zur Basis seiner Arbeit gemacht. Er hat mit dieser Übersee-Fracht Amerika neu definiert, etwa in »Double Indemnity« oder in »An Ace in the Hole«, oder in »The Apartment« oder in »Sunset Boulevard«. Ich habe mir seine Grunderfahrungen lesend erworben, weil ich aus dieser Welt vertrieben worden war, die die Generation meiner Eltern mit vernichtet und zerstört hat, getrieben und als Treiber.
    Wenn mir Wilder vom Tod Kaiser Franz Josephs mitten im Krieg erzählte, hatte ich Joseph Roths Roman »Die Kapuzinergruft« vor Augen; wenn er von Galizien sprach, hatte ich Roths »Radetzky-Marsch« im Gepäck, ich liebte Schnitzler, Freud, das Wien Wilders kannte ich aus Musils »Mann ohne Eigenschaften«, aus den Reportagen Egon Erwin Kischs, aus Doderers »Strudelhofstiege«. Ich liebte Peter Altenberg und Alfred Polgar und noch im letzten Film des nach England emigrierten Stanley Kubrick sah ich im New York des Films das Wien Schnitzlers aufgehoben. Nestroys sardonischen Witz liebte Wilder, wie ich ihn liebte. Und seine Liebe zu Mozart speiste sich auch aus der Tatsache, dass Mozarts großer Librettist, dass da Ponte Jude war. In Wilders Büro stand eine Büste von Disreali, dem englischen Premier jüdischer Herkunft.
    Ich habe bei Wilder gelernt, dass man seine Biographie als Film in seinem Gedächtnis aufbewahren kann. Er hat mir beispielsweise erzählt, seine Großmutter habe in den Karpaten ein Hotel gehabt, das »Zentral« geheißen habe. Dann hielt er inne. Ein Buchstabe sei herausgefallen gewesen, so dass das Hotel »Zental« geheißen habe. »Z-e-n-t-a-1« statt »Zentral«. Vor seinen Augen hatte Wilder ein Filmbild, ein Hotel, ein vergammeltes Hotel, dem ein Buchstabe aus seiner Krone gefallen war. Ich habe das einfach so in die Biographie übernommen wie die Geschichte bei der Zeitung »Stunde«, wo er sich seinen ersten Job gewissermaßen »erschlich«, als er den Chefredakteur nach Büroschluss mit der Sekretärin »in flagranti« erwischte. Der minutiös die Jugend Wilders nacherzählende Andreas Wolfgang Hutter hat in seiner Doktorarbeit diese Episode ins Reich der Anekdoten verwiesen. Sicher zu Recht. Ich habe sie in Kenntnis dieser Fakten zurück in die Biographie geholt. Ebenso zu Recht. Die Geschichte erschien mir wahr, wenn auch nicht wirklich.
    Wahr dagegen ist, dass Billie Wilder (so hieß er vor der Emigration noch) in einem seiner ersten Nachrufe auf einen besonders dicken Menschen – eine Art Vorläufer des Leverkusener Fußballmanagers Calmund – geschrieben hatte: »Möge er der Erde leicht werden!« Und dass der Chef der »Stunde« sein Wohlgefallen an dieser Formulierung hatte.
     
    Dialoge
     
    Natürlich habe ich mich mit Wilder auch über seine Zeit als Eintänzer im Berliner Hotel »Eden« unterhalten, und er hat mir brav und pflichtschuldigst alles erzählt, was ihm dazu einfiel und was sich in der Zwischenzeit in zahl reichen Anekdoten (immer und immer wieder erzählt) abgelagert hatte.
    Doch dann erzählte er mir, dass die anderen Tänzer besser ausgesehen haben mögen, eleganter gekleidet gewesen wären … Pause. Und stolze Ergänzung des zu Recht selbstbewussten Dialog-Schreibers. »Ich aber hatte den besseren Dialog!«
    Ich fragte nach. Worüber man sich mit den Damen beim Tanzen wohl unterhalten hätte. Wilder sah mich an, setzte ein pfiffiges Gesicht auf, war plötzlich ganz bei der Sache, weil er nicht mit bereits mehrfach erzählten Anekdoten antworten konnte, stand von seinem Stuhl hinter dem Schreibtisch auf und sagte, während er lebhaft im Zimmer auf und ab ging: »Lass uns das erfinden! Lass uns ein paar Kabinettstückchen von solchen Dialogen ausdenken!« Und, nachdem er »Kabinettstückchen« gesagt hatte, fing er fröhlich zu kalauern an: »Kabinettstückchen«, »Schnabinettstückchen«, »Knabinettschnippchen«. Und dann dachten wir uns, ich als sein Stichwortgeber und kritischer Widerpart, eine ganze Reihe von kurzen Tanzdialogen aus, wie der Eintänzer um Gunst schnorrt. Wie falsch es ist, zu sagen, dass die Schuhe durchgetanzt wären, weil man sonst nur die alten abgelegten Latschen des Herrn Gemahls bekäme, die auch noch zu eng sein würden.
    Den ganzen Vormittag haben wir uns Szenen ausgedacht, sie wieder verworfen, sie ergänzt, ins Absurde

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