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Auf der Flucht

Auf der Flucht

Titel: Auf der Flucht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hellmuth Karasek
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gesteigert, auf den Boden der Tanzfläche im Eden 1926/27 zurückgeholt. Wilder war ganz erhitzt und genoss es, mit mir kleine Fetzen aus seiner Biographie aus einer Zeit, die über ein halbes Jahrhundert zurücklag, zu erfinden. Zu erfinden, um sie in Dialogen aufzubewahren.
    Und mir fällt auf, wenn ich mich heute an diese Szene schreibend erinnere, welche Wehmut mich nach den Vergnügungen dieses Vormittags erfasst hat, damals und noch mehr heute. Für einen Augenblick denke ich, wie es denn gewesen wäre, wenn ich Wilder ein paar Jahre, Jahrzehnte früher getroffen hätte und ich in der Sprache Hollywoods zu Hause gewesen wäre. Ich hätte mich vielleicht in die Reihe der gequälten und glücklichen Kollaborateure Wilders einreihen können: neben den verschüchtert versoffenen genialen Raymond Chandler oder den zum New Yorker »Algonquin«-Zirkel gehörenden Ostküsten-Snob Charles Brackett oder den unverwüstlichen Diamond, den ich fast (nur fast) noch kennen gelernt habe, weil Willder den Todkranken im Spital besuchte, kurz bevor ich zum ersten Mal zu ihm kam. Mit all diesen Kollaborateuren hat Wilder seine und ihre Biographie erfunden, bearbeitet, zu Drehbüchern oder Drehbuch-Episoden umgeformt.
    Am Beispiel seines großen Vorbildes Lubitsch machte er mir klar, welche kommunizierenden Röhren zwischen Leben und geschriebenem (gefilmtem) Leben bestehen, wie er seinen Studenten den Lubitsch-Touch beigebracht habe: Wie entdeckt ein König, dass ihn seine Königin mit einem Leibgardisten betrügt? Man sieht des morgens, wie der König das Schlafgemach verlässt, vorbei an dem feschen, schlanken, salutierenden Wachoffizier. Er geht die Treppe hinunter, der fesche Offizier schleicht sich, sobald der König verschwunden ist, ins eheliche Schlafgemach zur Königin. Das sehen die Zuschauer nicht, sie sehen nur die verschlossene Tür. Die Kamera verfolgt den König, der weiter die Treppen hinunterschreitet, dem Ausgang des Schlosses zu, vorbei an salutierenden Offizieren. Plötzlich hält der König inne. Er greift sich an die Uniformjacke, merkt, dass er seinen Säbel nebst Gürtel im königlichen Schlafzimmer vergessen hat. Er dreht um, geht die Treppe wieder hoch, bemerkt nicht, dass der Leiboffizier nicht vor der Türe steht. Die Zuschauer sehen den König verschwinden. Wieder bleiben sie vor der verschlossenen Tür. Als die sich öffnet, kommt der König heraus, in der Hand Säbel und Gürtel. Und während er die Treppe hinunterschreitet, versucht er den Gürtel mit dem Säbel um seinen Bauch zu schließen. Erstutzt. Der Gürtel ist ihm viel zu eng.
    Ich denke, sagte Wilder, dass Lubitsch damit ein Stück eigenes Leben, eigene Erfahrung intuitiv verarbeitet habe. Er habe mit seiner ersten Frau folgendes erlebt: Lubitsch habe eines Morgens sein Haus verlassen und während er zu seinem Wagen gegangen sei, habe er bemerkt, dass es zu regnen angefangen habe – etwas, das in Hollywood sehr, sehr selten ist. Also sei er umgekehrt, zurück in sein Haus gegangen, zum Garderobenständer und habe sich seinen Hut aufgesetzt. Und beim Hinausgehen habe er gemerkt, wie ihm der Hut über die Ohren ins Gesicht vor die Augen gerutscht sei. Der Hut war zu groß. Es war der Hut seines Drehbuchautors Hanns Kräly, mit dem ihn seine Frau betrogen habe.
    1930 wurde die Ehe geschieden. Wegen Kräly, wegen des Huts. In meinem Gedächtnis ist die Geschichte seit dieser Zeit lebendig. Und immer, wenn ich Studenten mit Hilfe Wilders Lubitsch zu erklären versuche, habe ich die Szene mit dem König als Musterbeispiel (das Wesentliche spielt sich hinter verschlossenen Türen, also in der Phantasie des Zuschauers ab) angeführt – samt Lubitschs Hut, der Krälys Hut war und ihm über die Ohren rutschte, um ihm die Augen zu öffnen.

 
    Bei Woody Allen in New York
     
    Im unendlich heißen August 1981 fuhren meine spätere Frau, Armgard, und ich nach New York, dessen Straßen nicht nur unter der Hitze schmolzen, sondern damals, wäh rend der New Yorker Finanzkrise, auch viele Schlaglöcher hatten.
    Einerseits fuhren wir nach Amerika, weil ich meiner Lebensgefährtin (wir heirateten 1982, unmittelbar vor der Geburt unserer Tochter Laura) das College in Middlebury zeigen wollte, wo ich von 1970 an Sommer für Sommer eine unbeschwerte Zeit als Gastprofessor erlebt hatte. Meine Liebe zu Amerika – damals zu dem der Ostküste, noch nicht die zu Kalifornien – hatte sich in den Hippie-Jahren, der Zeit der Rock- und Gitarrenkonzerte, verfestigt,

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