Auf der Flucht
leben. So wie ich es vorher zuerst dem Theater und dann auch dem Film gegenüber hatte.
Es war auch schön, weil ich mit Reich in unzähligen, langen Telefonaten Erfahrungen über meine und seine Lektüre ausgetauscht habe, über das, was wir nicht ins Quartett nehmen wollten – noch mehr als über das, was wir dann öffentlich verhandelten. Es waren stets streitbare, stets lebhafte, ja temperamentvolle Gespräche. Marcel Reich-Ranicki spielt nie, simuliert nie, ist immer mit überhitzter Anteilnahme bei der Sache, er ist ein Anwalt der Literatur, Verteidiger wie Staatsanwalt, der aber kein Kassationsgericht duldet. Ob am Telefon, privat in einer Wohnung oder einer Hotelhalle – in Wahrheit war er nie anders, als er sich in der live ausgestrahlten Sendung darstellte, auch wenn er dort (meist jedenfalls, oder manches Mal) mit seiner Redezeit disziplinierter umging.
Peter Wapnewski hat das als Gast einmal so formuliert: »Ich möchte gern auch einmal die Gelegenheit haben, mitten im Reden eines Satzes unterbrochen zu werden.« Oder wie es Billy Wilder einer Filmfigur in Rage in den Mund legt: »Reden Sie nicht, während ich Sie unterbreche!« In Wahrheit war es aber so, dass man in keiner Sendung besser zu Wort kam als in dieser, in der es nur um Worte ging. Man musste die Chance nur beim Schöpfe fassen.
Natürlich bin ich oft genug nach meinem Verhältnis zu Reich-Ranicki gefragt worden, ob es eng sei, sehr persönlich. Nach einigem Nachdenken habe ich mir eine Antwort zurechtgelegt. Ich glaube, sie ist keine Ausrede: Dass man nämlich zu jemandem, mit dem man zwölf Jahre lang zur gleichen Zeit die gleichen Bücher liest und über die am Ende auch noch seine Eindrücke austauscht, ein ähnlich enges Verhältnis hat wie zu einem Menschen, mit dem man über Jahre Monat für Monat gemeinsame Wanderungen durch immer neue Landschaften unternimmt. Man sieht die gleichen Täler, hört die gleichen Quellen rauschen, macht sich auf die Schönheit von Kirchen, Schlössern oder Kapellen aufmerksam, streitet wohl auch darüber, wo man zur Rast einkehren will und ob man das Essen gut findet. Schon deshalb war ich ihm sehr nahe, wobei er einer der Menschen ist, der einem trotz gelegentlicher Heftigkeit nie zu nahe tritt – er verlangt Respekt und er zeigt Respekt. In Wahrheit sind wir beim Lesen nicht durch romantische Täler gewandert, sondern durch Müllhalden, Trümmerfelder, wüste Träume, groteske Angstvorstellungen.
»Einig Vaterland«
Im Mai 2001 bekam ich in Hamburg völlig unerwartet einen Anruf. Am Telefon war Günter Gaus, mit dem ich bestimmt, abgesehen von einigen unverbindlichen Begegnungen bei irgendwelchen offiziellen Ereignissen, seit gut zwanzig Jahren nicht gesprochen hatte. Ich arbeitete wie er seit einigen Jahren in Berlin, er beim »Freitag« und beim Fernsehen, ich beim »Tagesspiegel«, beide waren wir Berufs pendler. Es war ein merkwürdiges Gespräch, bei dem sich Gaus zunächst für seine Stimme entschuldigte. Das heißt: Er sagte, ich solle mich nicht über die Schwäche seiner Stimme wundern, er habe aber eine Kehlkopf- oder Stimmband-Operation hinter sich, Knoten seien entfernt worden, glücklicherweise hätten sich die Wucherungen als »gutartig« erwiesen. Das Wort »gutartig« gebrauchte er zu seiner wie zu meiner Erleichterung – zu meiner, weil er, solange ich ihn kannte, nicht nur ein hoch gescheiter, schneidender Formulierer mit der ihm angemessenen Eitel keit war und jetzt ein wenig brüchig, mürbe klang, was seiner Rhetorik jedoch keinen Abbruch tat. Gaus war der Mensch gewesen, der den »s-pitzen S-tein« (er war ja in Wahrheit kein Hanseat, sondern aus Braunschweig) am schneidendsten artikulierte, so als wollte er sich durch die Kälte der Diktion auf das Schärfste von dem unterscheiden, was sich, zumindest in seinen Ohren, süddeutsch verschwie melt, gar bayerisch oder hessisch oder pfälzisch anhörte. Er war, das Klischeebild sei gestattet, ein nord deutscher Herrenreiter, schmal, so schmal wie sein Intel lekt, an dem man sich schneiden konnte. Und so war seine Sprache.
Ich erinnere mich, wie Tucholsky angeekelt in seinen Schriften den »Hosenboden« in Hitlers Stimme aus den Propaganda-Tiraden der Dreißiger beschrieben hatte. Er empfand wohl das gleiche hanseatische Erschrecken, das Thomas Mann in den »Buddenbrooks« festgehalten hat, als die Familie von Lübeck nach München zieht. Aber ich will das sprachliche Nordsüdgefälle nicht überstrapazieren, denn ich
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