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Auf der Flucht

Auf der Flucht

Titel: Auf der Flucht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hellmuth Karasek
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Rührseligkeit und ohne Pathos, aber bedrängt von der Erfahrung und Erinnerung. Über seine Berliner Gymnasialzeit hatte er mir schon einmal früher erzählt, über seine Liebe zum deutschen Theater im Berlin der dreißiger Jahre. Und auch über das Musikleben im Ghetto hatte er sich schon geäußert. Alles andere aber war neu, und ich weiß nicht, ob wir zwei Stunden oder länger in die Nacht hinein saßen, jedenfalls sagte ich ihm am Schluss des Abends: »Das musst du aufschreiben!«, weil er über das Beobachtungs- und Erinnerungspotential verfüge und weil er, als Erzähler, so auswählen könne, wie nur Erzähler auswählen können. »Du musst es aufschreiben!«, sagte ich. Und seine Frau sagte: »Das sage ich ihm schon lange!«
    Ich will damit keinesfalls sagen, dass es mein Verdienst ist, dass er sich hinsetzte und sein Leben niederschrieb. Was ich sagen will, ist, dass ich glaube, Spielbergs Film hat eine verschüttete Quelle in Reichs Erinnern zum Fließen gebracht.
     
    Damals waren wir, jedenfalls was die ständigen Mitglieder des »Quartetts« betrifft, schon zu dritt. Reich-Ranicki, Sigrid Löffler und ich. Zwischen uns gab es, wie in jedem Trio (ich vermeide das Wort Triumvirat), Spannungen, Reibungen, ärgerlich, anregend, hemmend. Jede Dreie r beziehung ist darauf angelegt, dass zwei sich gegen einen verbünden. Auch darauf, dass diese Koalitionen wechseln. Dass sie, wie in der Politik – siehe das Trio Lafontaine, Scharping, Schröder – , zu Mord und Totschlag führen, ist in der Kulturszene nur nicht vorgesehen, aber vorgegeben. Mehrere Dolchstoß-Szenarios haben wir drei überlebt, wir waren alle durch Redaktionsarbeiten erfahrene Mobbiisten und Bürgerkrieger, aufs Überleben trainiert.
    Am 24.2.1994 erschien in der »Berliner Wochenpost« eine Rezension von Sigrid Löffler über »Schindlers Liste«. Überschrift: »Kino als Ablass«. Unterzeile: »Spielbergs misslungener Film«. Die Unterzeile war kein Problem für mich, auch der Tenor des Verrisses, soweit er der Unterzeile folgte, war keins. Über Filme wie über Bücher kann man geteilter Meinung sein; man muss es nur begründen können. Das war für uns alle selbstverständlich, es war die Grundlage unserer gemeinsamen Arbeit. Manchmal fanden wir – wechselseitig – die Argumente unserer Mitspieler nicht überzeugend, sogar blöd – dann haben wir mit unserer Meinung nicht hinterm Berg gehalten. Das war ein Reiz der Sendung – jedenfalls ihrer besseren Folgen.
    Doch da, wo Sigrid Löffler sich auf Motivationssuche begab, da verunglückte ihr, nach meiner Meinung, die Wortwahl so, dass sie mehr über die Motive der Kritikerin verriet, als ihr und vor allem mir lieb sein konnte. Spielbergs Film sei »ein Gefühls-Quickie« (»Quickie« hieß und heißt in der Teenie-Sprache »schneller Fick«). Und die Folge davon, dass »sogar der Holocaust durch die Gefühlsstimulationsmaschinerie Hollywood gedreht werden« kann, lag für Löffler auf der Hand: »Da wird die Kinokarte zum bequemen Ablasszettel.« Wie bitte? Ablass? War das nicht das empörendste Geschäft mit Ängsten und Gefühlen, das sich die korrumpierte katholische Kirche Ende des Mittelalters hatte einfallen lassen, so empörend, dass Luther zum Reformator wurde? »Wenn das Geld im Beutel klingt, die Seele in den Himmel springt«, hieß Tetzels Ablasshandel-Devise. Und nun »Hollywood«, das perfekt auf der »Gefühlsklaviatur« spielt, das mittels eines Films »seelische Schnellreinigung« verspricht, selbst den Holocaust dazu benutzt, »Geld im Beutel« klingen zu lassen? Abgesehen davon, dass es mich enttäuschte, dass eine Kollegin, deren Grundstimmungen und Urteilsbegründungen ich bis dahin verstand, »Hollywood« als die amerikanische Filmindustrie, die für mich das wichtigste Kulturmedium des 20. Jahrhunderts war, vom hohen Lipizzaner-Ross mit blinder Verachtung strafte, abgesehen davon, hat mir diese Kritik die Augen dafür geöffnet, aus welchem Hintergrund sich die Ablehnung des Schindler-Films speiste: Es war der purgatorische Eifer, der den Tempel der Holocaust-Erinnerung von den schnöden Gefühlshändlern aus »Hollywood« reinigen will.
    Ich habe im Laufe meiner journalistischen Arbeit übrigens sehr wohl lesen gelernt, dass ein bestimmter Gebrauch des Wortes »Hollywood« in einem bestimmten Kontext Ausdruck eines unterschwelligen Antisemitismus ist – genau wie der Begriff von der »amerikanischen Ostküstenpresse«. Gefühlsmanipulatoren sind die einen, die

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