Auf der Flucht
Dichters auf seinem Marsch zu Cézanne stört ein Hund, in dem Handke sehr wohl seinen schärfsten Kritiker, also Marcel Reich-Ranicki erblickt, frei nach Goethes Fluch, der allerdings einem Spießer in den Mund gelegt ist: Schlagt ihn tot, den Hund, er ist ein Rezensent! Weiter las ich, mitten in der sich selbst feiernden Prosa, zu meinem Entsetzen, mit welch Ekel und Abscheu Handke diesen geifernden, ihn ankläffenden Hund beschreibt (»In einer Brüllpause, während er um Atem rang, geschah nur das lautlose Tropfen von Geifer« – die Stelle sollte mir später wieder bei Walsers »Tod eines Kritikers« einfallen, wo ähnlich formuliert wird), und dann kam der Halbsatz: »… wie er in seiner von dem Getto vielleicht noch verstärkten Mordlust jedes Rassenmerkmal verlor und nur noch im Volk der Henker das Prachtexemplar war.« Die Stelle war deutlich, überdeutlich, und Handke, der damals noch weit entfernt von seiner Begeisterung für das Serbien Miloševi æ s war, hat mich, als ich ihn bei einem Interview erschrocken nach seinem antisemitischen Ausfall gegen Reich-Ranicki fragte, achselzuckend, kaltschnäuzig abblitzen lassen: »Na und!«, sagte er und wechselte das Thema.
»Die durch das Ghetto verstärkte Mordlust«, und: »Er, der Wachhund im Gelände; und ich im Gefilde (für das er naturgemäß keine Augen hatte, weil das Wirkliche für ihn einzig sein Sperrgebiet war)«: Der Kritiker wird hier zu einem Hetzplakat vertiert. Und nachträglich verstehe ich, wie und warum Reich-Ranicki sich gegen den »Spiegel«-Titel vehement wehrte, auf dem er als Papier zerfetzende Dogge abgebildet war. Das war keine »Stürmer«-Karikatur, aber für ihn beschwor es eine.
Natürlich spielte das alles im »Quartett« nur unterschwellig eine Rolle; nur manchmal war mir klar, warum mich jemand dafür kritisierte, dass ich ihm – Reich-Ranicki – nicht genug und nicht heftig genug widersprochen hätte. Und wenn ich dann sagte, warum hätte ich widersprechen sollen, das wäre doch künstlich gewesen, ich sei ja mit ihm, in diesem Falle, wirklich und ausdrücklich einer Meinung gewesen, dann erntete ich ungläubige, befremdliche Blicke.
Am 1. März 1994 fand in Frankfurt im Schauspielhaus die deutsche Erstaufführung von Steven Spielbergs Film »Schindlers Liste« statt. Ich hatte den Film schon in der deutschen Pressevorführung und in Hollywood, als Vorbereitung auf mein Spielberg-Interview, gesehen. Schon in den USA gab es nicht wenige, die mir, zum Beispiel in der Bar des Beverly-Wilshere-Hotels bei einem Empfang, sagten, na ja, das sei vielleicht ein ganz guter Film, aber Politik habe im Kino nix verloren. Die das sagten, waren alte Hollywood-Konservative, und ihre Kritik hatte nichts Aggressives und nichts mühsam Unterdrücktes. In Amerika diskutiert man das ohne die Hypothek der Geschichte.
Jetzt also erlebte ich Spielbergs Film zum ersten Mal vor Publikum, noch dazu vor deutschem Publikum, zusammen mit Marcel Reich-Ranicki und seiner und meiner Frau. Danach war er spürbar von seinen Gefühlen und Erinnerungen bewegt.
Marcel Reich-Ranicki ist alles andere als ein rührseliger Mensch. Und seine wunderbare Frau, Toscha, die er seit den Jahren im Ghetto kennt, aus der Zeit, in der beide sich gefunden haben, aus Liebe und Notwehr und mit dem starken Willen zu überleben, hat zwar ein lebhaft schönes Gesicht, in dem sich ihre Empfindungen noch dann ablesen lassen, wenn sie in ihrem Handtäschchen geschäftig nach Zigaretten oder einem Feuerzeug kramt, aber auch sie ist eine Frau, die niemanden mit ihren Gefühlen behelligt, die sie nur zeigt, wenn jemand sie verdient. Ich habe es als großen Gewinn empfunden, dass sie mir nach vielen Jahren, da ich die beiden kenne – ihn, der den Bärbeißigen vorschützt, und sie, die still in sich versunken und doch aufmerksam dasitzt und nur das Nötige sagt –, eine herzliche Zuneigung gezeigt hat, nicht am Anfang, sondern nach mehreren Jahren. Wenn es wirklich Wert hat, weil an Erfahrungen überprüft.
Wir gingen also nach dem Film zu viert, meine Frau, Frau Reich, er und ich, in den »Frankfurter Hof«, wo wir einen Tisch für uns fanden. Der Film hatte eine Art Schleuse in ihm geöffnet; zum ersten Mal, seit wir uns kannten, seit 1968, als wir beide für die »Zeit« arbeiteten, erzählte er ausführlich von seinen Erlebnissen im Warschauer Ghetto, wie er sich mit Toscha im Untergrund versteckt habe, wie sie von der Roten Armee befreit worden seien. Er erzählte ohne
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