Auf der Flucht
im Westen; Meinungsmanipulatoren sind die anderen, die im Osten. Und Geld wollen sie auch noch damit verdienen, viel Geld. Wenn's sein muss Ablassgeld.
André Gide hat einmal den Anfang vom Ende einer Liebe beschrieben: Da sieht ein Mann bei seiner Freundin am schönen Fuß ein Stück hässlich gelbe Hornhaut. Er erschrickt, weil ihm in dem Moment klar wird, dass diese Hornhaut in seiner Vorstellung eines Tages den ganzen Körper des geliebten Menschen überziehen würde. Sympathie für andere Menschen hängt auch damit zusammen, dass man sich mit ihnen in einem Grundeinklang darüber befindet, was man an Büchern, an Musik, an Bildern, an Filmen und Theaterstücken mag. Die Gefühlsbindung zu meiner Frau und allen meinen vier Kindern ist auch dadurch gewachsen – und ich hatte großes Glück dabei –, dass wir Filme und Opern und Theaterabende gemeinsam und mit gleicher Begeisterung gesehen haben, über Bücher, die wir lasen, gesprochen haben.
Ich erinnere mich noch an die Freude, als ich meinen damals vierzehnjährigen Sohn Daniel in Bob Wilsons »Einstein on the Beach« mitnahm. Fast sechs Stunden am Stück sollte die Vorstellung dauern und um Daniel die Panik zu nehmen, habe ich ihm erklärt, er könne jederzeit während der Vorstellung auf die Toilette oder, um etwas zu trinken, hinausgehen. Und wenn es ihm nicht gefalle, müsse er sich keineswegs zwingen, er könne einfach nach Hause gehen. Umso größer war meine Freude, dass er die ganze Zeit wie gebannt auf die Bühne schaute, es war, als entstünde zu der angeborenen Verwandtschaft eine zweite, eine neue. Das gleiche Glücksgefühl habe ich auch mit meiner Tochter Laura erlebt, als ich sie – sie war noch nicht in der Schule – mit nach Salzburg in eine Vorstellung zu Mozarts »Entführung aus dem Serail« nahm. Auch sie war den langen Abend über hellwach und folgte der Musik mit hellen Augen und wachen Ohren.
Natürlich gibt es auch den Akt jäher Entfremdung, die sich dann bis zur Trennung steigert. Die iranisch-französische Dramatikerin Reza hat das in ihrer hinreißend witzigen Boulevardkomödie »Kunst« festgehalten: Drei Freunde, die sich über den »Wert« eines Kunstwerks, das der eine stolz erworben hat, völlig zerstreiten. Bis der andere, um mit Gide zu sprechen, völlig mit Hornhaut überzogen ist.
Sigrid Löfflers Kritik über »Schindlers Liste« hat die Lunte an den Zusammenhalt des »Quartetts« gelegt. Der Eklat bei der Sendung in Hannover war nur der Augenblick, in dem der laufende Funke aus der Zündschnur das Objekt erreicht und sprengt.
In Wahrheit hat Sigrid Löfflers Ausscheiden die Existenz des »Quartetts« um ein ganzes Jahr verlängert. Als nämlich Iris Radisch sich bereit erklärte, den Platz Sigrid Löfflers einzunehmen, nachdem ein vom ZDF-Intendanten Dieter Stolte vorbereiteter Versöhnungsversuch gescheitert war, da stellte sie die Bedingung, ein weiteres Jahr müsse es schon sein, nur für die letzten zwei Sendungen stehe sie nicht zur Verfügung.
Ich gebe zu, dass seit der »Schindlers Liste«-Kritik mein Verhältnis zu Sigrid Löffler von einem Vorurteil (Vor-Urteil) geprägt war; ich war gehässig – was man eigentlich nicht sein soll. Das heißt: Ich lauerte auf die Bestätigung meiner vorurteilsgeprägten Erwartungen. Aber wenn sie das liebte, was sich mir als Handkes manieristischer Schwulst darstellte, oder wenn sie mit einer humorlosen Unbarmherzigkeit André Heller bekämpfte – und jeden, der auch nur in seine Nähe kam, also auch den bis dahin von ihr als Anti-Wiener geliebten Claus Peymann als Burgtheater-Direktor, weil er es wagte, Heller als Regisseur zu beschäftigen: hatte ich da nicht auf einmal Recht?
Die zwölf Quartett-Jahre waren eine schöne, eine aufre gende Zeit. Sie gab uns eine öffentlich wichtige Rolle – und wer hat das nicht gern. Wir bekamen als Kritiker sozusagen eine zweite Luft. Nicht nur wegen der Sendungen, in denen wir zum Nachdenken, zum Diskutieren und zum Streiten in aller Öffentlichkeit viel Zeit hatten, Reichs rigorose Auffassung von Gespräch sorgte dafür. Es war auch eine nützliche Zeit, weil ich nie vorher und nie nach her so viel lesen musste – viel mehr, als ich wollte. Ich habe darunter manchmal geächzt und gestöhnt und nicht allzu oft wurde ich mit großartigen Entdeckerfreuden belohnt, aber schön war, dass ich den Büchern gegenüber zwölf Jahre in der Pflicht war. Ich hatte das Gefühl, in der Belletristik zumindest, auf der Höhe der Zeit zu
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