Auf der Flucht
Bestürzung, wie denn um Himmels Willen meine Vorbilder wie Picasso, Pablo Neruda, Brecht, Jean-Paul Sartre, Chaplin oder Vittorio de Sica sich diesem System der Verdrehungen und der verlogenen Unmenschlichkeit zur Verfügung stellen konnten. Man ließ uns durch Wahlen und Abstimmungen laut verkünden, uns geschehe Recht, während uns Unrecht widerfuhr, und niemand, kein Picasso, Brecht, Neruda, Chaplin, war auf unserer Seite. Und wer auf unserer Seite war, der wurde wie Arthur Koestler oder wie George Orwell oder wie Albert Camus genau deswegen denunziert und verächtlich gemacht.
Nichts hatte sich die Mehrheit der Menschen in der Sowjetischen Besatzungszone damals mehr gewünscht als diese erste Abstimmung, in der sie frei hätten ihre Meinung sagen können. Und genau diese Chance wurde ihnen auf die perverseste Weise gleichzeitig gegeben und verweigert.
Von 1948 an wurden die Reisen in den Westen erschwert, die »grüne Grenze« nach und nach mit verbotenen Zonen, später Todeszonen abgeschirmt. Nichtberlinern in der Ostzone wurde es nur unter bürokratischen Schikanen möglich gemacht, nach Berlin und von dort nach Westberlin zu kommen, Bahnstrecken wurden um Berlin herumgeleitet, alte Verbindungen endeten stumpf und tot vor der Stadt, und an den Sektorengrenzen warnten Durchsagen in den immer noch unverdrossen und unermüdlich fahrenden S- und U-Bahnen, dass man nun »Achtung! Achtung!« den »demokratischen Sektor« verlasse.
Der Aufbau der DDR war bis zu ihrem Ende (man muss das so paradox sagen) auf die Zerstörung von zahllosen Hoffnungen und Existenzen gegründet – sie war eine Kette von Niederschlagungen der Aufbegehrenden: Der 17. Juni 1953 und der 13. August 1961 waren dabei nur spektakuläre Eckdaten.
»Eßt mehr Südfrüchte!«
Ich habe ein festgefrorenes Standfoto in meinem Gedächtnis. Es stammt aus dem Jahr 1950, zwei Jahre also waren seit der Währungsreform in West und Ost vergangen, seit einem Jahr gab es zwei deutsche Staaten. Über die Saale in Bernburg führte immer noch eine Behelfsbrücke, die Geschäfte, die auf der anderen Saale-Seite an der nach oben führenden Hauptstraße lagen, waren geschlossen, die Häuser verfielen, einige Läden hatten in ihren ehemaligen Schaufenstern kleine Scheiben, während der Rest mit Pappe oder Sperrholz zugenagelt war. Die einzigen Farben lieferten rote Transparente, auf denen verkündet wurde, dass der Sozialismus siegen würde. »Vorwärts!« befahlen die Losungen, während die Stadt zurückkroch in den hoffnungslosen Verfall.
Unten, auf einer breiten Straße, war ein Gemüseladen. Er war so gut wie leer, leere Regale, leere Holzkisten, eine leere Waage mit rostigen Gewichten. Und, da es keine Waren gab, auch leer von Kunden. In der Ecke ein halb leerer Zentnersack mit schrumpeligen Kartoffeln, die es auf Marken gab. Vorne eine Kiste, in der eine oder zwei unansehnliche rote Rüben lagen, eine schrumpelige Möhre. Hinten, an der Rückwand des Ladens, ein Schild, emailliert, die Emaille begann an rostigen Rändern abzublättern. Drauf stand: »Eßt mehr Südfrüchte!« Um dieser Aufforderung nachkommen zu können, hätte man nach Goslar, nach Helmstedt, nach Westberlin fahren müssen, man hätte sich strafbar machen müssen gegen die Grenz- und Devisengesetze der DDR, die sich demokratisch nannte, obwohl sie die gruslige Farce eines Staates war, der seine Legitimation nur aus der Präsenz der Panzer der russischen Besatzungsmacht bezog, von denen er sich auch eine drakonische Büttelgewalt gegen seine Untertanen geliehen hatte – ein Pump auf den Kalten Krieg.
»Eßt mehr Südfrüchte!« Heute denke ich, dass das damals eigentlich eine subversive Losung war, mit mehr Sprengkraft als die Losung »Heraus zum 1. Mai!«. Eigentlich die Forderung nach einem Palast, nach einem Konsumtempel in der planwirtschaftlichen Einöde. Später habe ich in Brechts gesammelten Werken gelesen, dass er 1953 die Materialversorgung bittet, ihm wegen der Stromsperren Petroleum zuzuteilen, damit er arbeiten könne, dass er für seine Frau (»die Nationalpreisträgerin«) Helene Weigel Briketts brauche und dass er »als Bayer«, der gern Bier trinke, bittet, die Erlaubnis erteilt zu bekommen, Radeberger Bier zu beziehen, das nur für den Export nach dem Westen bestimmt ist. Es mag ein wenig für sozialistische Gerechtigkeit sprechen, dass selbst der weltberühmte Brecht, der ja als österreichischer Staatsbürger in der DDR lebte, über ministerielle
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