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Auf der Flucht

Auf der Flucht

Titel: Auf der Flucht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hellmuth Karasek
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Beziehungen um genießbares Bier betteln musste.
     
    1950 trennte sich meine Mutter schweren Herzens von dem letzten und einzigen Schmuck, den sie durch all die Jahre versteckt und gerettet hatte, von einem Ring mit einem kleinen Diamanten und Diamantenstaub auf vier kleinen rechteckigen Plättchen, die den runden Diamanten einfassten. Sie hat geweint, als sie dieses letzte Stück Hoffnung auf ein wieder besseres Leben gegen einen Zentner Kartoffeln für ihre gefräßigen Kinder eintauschte. Mein Vater arbeitete da längst als Schichtleiter und stellvertretender Betriebsleiter in dem Holzbetrieb, in dem er als Tischler angefangen hatte. Wir Schüler wurden damals zum Kartoffelkäfer-Sammeln in die Äcker geschickt. Die gefräßigen Schädlinge waren angeblich von den Amerikanern abgeworfen worden, um die stetige Aufbauarbeit im Sozialismus zu sabotieren. Es gibt von Brecht ein Propagandagedicht dazu, die »Ami-Flieger« von 1950. Das Gedicht bringt die Luftbrückenflüge zur Rettung Westberlins in einen Zusammenhang mit dem Hunger der DDR-Kinder: Die Ami-Flieger hätten eben Kartoffelkäfer über der DDR abgeworfen. Eigentlich dürfte man auch einem »parteilichen« Schriftsteller solche Zeilen nicht verzeihen – selbst dem größten deutschsprachigen Lyriker des 20. Jahrhunderts nicht.
    Im gleichen Jahr starb mein Englisch- und Russischlehrer, der ständig einen lila Anzug getragen und stets nach verdorbenem Ei aus dem Mund gerochen hatte, ein Mann, der gerne ins Plaudern über seine Studienzeit in England oder den Grabenkrieg im Ersten Weltkrieg gekommen war, bei dem man aber kaum etwas lernte – auch nicht Russisch, wo uns der Arme nur drei Lektionen voraus war, was wir durch schnöde Fragen herausfanden, um ihn zu überführen. Er hatte Wochen im Krankenhaus gelegen, und bei der Totenfeier in der Kirche hob der Pfarrer gerührt die Anhänglichkeit und Liebe seiner Klasse (das waren damals nicht mehr wir) hervor: Seine Schüler hätten ihm von ihren Schulbrötchen täglich welche ins Krankenhaus gebracht.
    Kein Wunder, dass, wer auf irgendwelchen Wegen nach dem Westen konnte, nach dem Westen »machte«, wie man das damals nannte.
    Ich sang, zu der Zeit schon ein tiefer Bariton, im Schulchor, den ein schlanker, gut aussehender Lehrer mit langem zurückgekämmtem Haar und einem beeindruckenden Adamsapfel, der beim Dirigieren auf und ab sprang, leitete. Nebenbei sammelte er Wirtinnen-Verse und die schweinigelnde Variante von Wilhelm Buschs Alphabet (Die Ceder wächst im Libanon / Cadetten onanieren schon«, »Der Falke wohnt in steiler Kluft / Beim fünften Mal kommt heiße Luft«, »Darius war ein Perserkönig / Beim dritten Mal kommt oft recht wenig«, »Die Qualle durch das Weltmeer segelt / Es quietscht, wenn man im Wasser vögelt«), Klapphornverse, die in der Aufbauphase des Sozialismus an pickelige und pubertäre Pennälerzeiten aus besseren Zeiten erinnerten. Später ist dieser in unseren Augen liebenswerte Mann, der uns fürs Singen begeisterte und uns gemeinsame Fahrten zu erfolgreichen Gastspielen im Umkreis ermöglichte, von der Chorleitung suspendiert worden, und auch den Schuldienst durfte er nicht fortsetzen: Er hatte einer hübschen Schülerin der Abiturklasse eine Kaninchenpelzjacke geschenkt, und sie hatte sich damit gebrüstet, buchstäblich! Man schloss aus dem Geschenk auf die vorausgegangenen Tete-à-Tetes mit praktizierten Klapphornversen.
    Auch ich, damals sechzehn, bin nicht nur oder nicht vorwiegend wegen der Musik in den Chor eingetreten, sondern weil es ein gemischter Chor war und wir bei unseren Tourneen den Sopran- und Altstimmen näher kamen.
    Ich hatte mich mit Gisela befreundet, einem Mädchen mit einer neugierigen mageren Halbschwester, die uns kuppelnd bei unseren Schmusereien half, um uns dann umso gründlicher in unserer Zweisamkeit zu stören. Gisela war etwas untersetzt, aber warm, herzlich und zärtlich und ich mochte sie manchmal sehr, manchmal überhaupt nicht, wenn mich meine Freunde wegen ihr hänselten (dann schämte ich mich, dass ich mit ihr ging). Wir trennten und versöhnten uns, wir mieden und trafen uns, wir stahlen uns von der Schwester davon, so ging das eine lange Zeit.
    Einmal, an einem verregneten Wochenende, überkam mich, nachdem ich mich wieder vor Wochen getrennt hatte, die Sehnsucht nach ihr. Ihr Stiefvater war Notar, er mochte mich. Ich rief an, fragte sie, ob wir uns sehen könnten. Sie sagte, das sei nicht möglich, das gehe nicht. Ich war traurig,

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