Auf der Flucht
noch ehe sie begonnen hatte.
Später im »Spiegel« habe ich Titelgeschichten über Sinatra mitgeschrieben, über seine Verbindung zur Mafia und zu John F. Kennedy, ich habe über Blatzheim recherchiert, weil er der Stiefvater von Romy Schneider wurde, später und bis heute lege ich mir, wenn ich mich an die PanAm-blauen Paradiese der Sechziger erinnern will, an deren Bubblegum-Illusionen, Sinatra auf: »Come fly with me!«
Nach und nach sickerte der Stalinismus (das ist die Form, in der ich den Sozialismus erlebte) durch alle Ritzen, ein schleichendes und bedrohliches Gift, das sich ausbreitete, alle ansteckte und diejenigen, die sich wehrten, vernichtete. Die anderen wurden anverwandelt. Es gibt über dieses Phänomen mehrere schriftstellerische Entwürfe, Visionen; sicher die gültigste ist George Orwells » 1984«, das ich bis heute nicht ohne psychische Beklemmungen lesen kann – die Lektüre versetzt mich in Unruhe, die ich durch ein aufgeregtes Aufundabwandern in Motorik umsetzen muss, weil sie genau die Lebensperspektiven ausmalt, die mir damals in schrecklichster Aussicht standen. Es ist das Buch über eine Terrorherrschaft, die ihre Opfer zu einverständiger Zustimmung, ja Liebe und Begeisterung presst. Es ist der Terror, der in das Innere des Opfers transplantiert wird, das seiner Vernichtung gläubig und voller Überzeugung zustimmt.
Stalins Schauprozesse von 1936-1938, die sich in den Prozessen in den Satellitenstaaten wiederholten, also etwa dem Slanski-Prozess in der Tschechoslowakei, sind der Widerschein dieser Vorgänge, in dem der Terror einen Menschen mit dessen serviler Zustimmung auslöscht. Der stalinistische Terror nimmt dem Opfer noch die letzte Würde, er kann nicht einmal nicht einverstanden sein mit der eigenen Vernichtung.
Es gibt Franz Kafkas Schreckensvision des »Prozesses« – als Vorwegnahme der in grausige Logik verwandelten Willkür eines Apparats, der sich die Vernichtung vorgenommen hat, das Buch ist voll absurder Logik und lähmender Konsequenz. Es gibt Albert Camus' »Pest«, die die Zerstörung beschreibt. Nachträglich, als Opfer, hat Solschenizyn, im »Archipel Gulag« das Menschen millionenfach zermalmende System beschrieben. Wenn ich mich in die Träume der ersten Nachkriegsjahre zurückträume, dann war die Welt ein Nachtgespenst. Ein grässlicher Schwarzweißfilm, in dem des Nachts Männer mit Schlapphüten vor meiner Tür standen. Sie waren freundlich, bis sie mich im Klammergriff zwischen sich nahmen und zu meiner Vernichtung abschleppten, vorher lächelten sie noch um meine Zustimmung – bis ich sie ihnen winselnd gab. Von Kafka habe ich die Selbstachtung in der Selbstverachtung gelernt.
Alles Schwafelei
Der »Große Bruder« – damals noch keine Trashshow des Kommerzfernsehens, sondern der Übergott in einem irdischen Terrorhimmel – existiert schon lange nicht mehr. Inzwischen heißt Stalingrad nicht mehr Stalingrad und die Stalinallee nicht mehr Stalinallee und sogar Leningrad heißt wieder St. Petersburg. Man müsste das nicht aufschreiben, werkelten nicht noch immer unverdrossen Nachfolgeparteien an einem Kommunismus mit menschlichem Antlitz, an einem Sozialismus ohne Stalins (Lenins, Maos, Titos, Ho Chi Minhs, Fidel Castros, Pol Pots) Fehler.
Ich bewundere die Autoren, die als Satiriker oder Endzeitvisionäre die finsteren Kerker in ihrer Unendlichkeit und die geistigen Verliese in ihrer Unentrinnbarkeit aufgezeichnet haben: Stanislaw Lern mit seinen futurologischen Visionen, Eugene Ionesco mit seinem Stück von den »Nashörnern«, Mrozek mit seiner Satire von der »Polizei«. Es fällt mir schwer, Schriftsteller zu respektieren, die Stalin in Hymnen und Elogen besungen haben. Es waren mehr, als es uns heute in unserer Erinnerung lieb ist.
Wenn man mir heute begütigend und zur Beruhigung sagt: »Ja, Sie! Sie haben die DDR zu einem Zeitpunkt verlassen, als noch der Stalinismus wütete, nachher wurde ja alles besser, allmählich«, kann ich nur antworten: Wirklich? Und der 17. Juni? Sind danach nicht Menschen zu Zuchthaus und zum Tode verurteilt, Existenzen zerstört worden, die nur von ihrem natürlichen Streik- und Versammlungsrecht Gebrauch machten? Und war nicht Budapest, nach Stalins Tod, die blutigste und grausigste Niederschlagung einer berechtigten Revolution? Und Prag? Und Solidarnosc? Und der Platz des Himmlischen Friedens? Und Castro, der noch im Jahr 2003 Flüchtlinge hinrichten ließ? Und Schriftsteller wegen der Gedanken
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